Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Grase zer¬
streut, aber der Frühling hatte den verlassenen Berg
wieder bestiegen, und spielte fast wehmüthig in dem
stillen Hause. Seltsame Sagen gingen in der Ge¬
gend von diesem einsamen Ort. Die Hirten hörten
oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wun¬
derschöne bleiche Frau sollte sich manchmal dort in dem
ausgebrochenen Fenster sehen lassen. -- Florentine war
noch nie allein hier gewesen, jetzt verlockte sie der eigene
Reiz des Grauens, sie betrat erst vorsichtig und zau¬
dernd, dann immer kecker die kühlen, von oben verschat¬
teten Hallen. Durch die Mauerlücken blickten zuwei¬
len die Thäler schillernd aus der sonnenhellen Tiefe
herauf, nur hin und her sang ein Gebirgsvogel mit
fremdem Schall, und verstörte Eidechsen fuhren raschelnd
unter das Unkraut, daß sie unwillkürlich zusammenschrak.

Jetzt kam sie in den innern Burghof, da stand
ein wilder Kirschbaum in voller Blüte, dunkelrothe
Blumen glühten zwischen den Steinen, einzelne Schmet¬
terlinge flatterten ungewiß in der trüben, brütenden
Schwüle; und als sie plötzlich um den Pfeiler trat,
sah sie eine schöne bleiche Frau in einem seltsamen
himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Rasen
sitzen, die wandte sich nicht, und kämmte schweigend
ihr lang herabwallendes rabenschwarzes Haar. -- Flo¬
rentine blickte noch einmal scharf hin, dann, vom Ent¬
setzen überwältigt, ergriff sie die Flucht.

ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Graſe zer¬
ſtreut, aber der Fruͤhling hatte den verlaſſenen Berg
wieder beſtiegen, und ſpielte faſt wehmuͤthig in dem
ſtillen Hauſe. Seltſame Sagen gingen in der Ge¬
gend von dieſem einſamen Ort. Die Hirten hoͤrten
oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wun¬
derſchoͤne bleiche Frau ſollte ſich manchmal dort in dem
ausgebrochenen Fenſter ſehen laſſen. — Florentine war
noch nie allein hier geweſen, jetzt verlockte ſie der eigene
Reiz des Grauens, ſie betrat erſt vorſichtig und zau¬
dernd, dann immer kecker die kuͤhlen, von oben verſchat¬
teten Hallen. Durch die Mauerluͤcken blickten zuwei¬
len die Thaͤler ſchillernd aus der ſonnenhellen Tiefe
herauf, nur hin und her ſang ein Gebirgsvogel mit
fremdem Schall, und verſtoͤrte Eidechſen fuhren raſchelnd
unter das Unkraut, daß ſie unwillkuͤrlich zuſammenſchrak.

Jetzt kam ſie in den innern Burghof, da ſtand
ein wilder Kirſchbaum in voller Bluͤte, dunkelrothe
Blumen gluͤhten zwiſchen den Steinen, einzelne Schmet¬
terlinge flatterten ungewiß in der truͤben, bruͤtenden
Schwuͤle; und als ſie ploͤtzlich um den Pfeiler trat,
ſah ſie eine ſchoͤne bleiche Frau in einem ſeltſamen
himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Raſen
ſitzen, die wandte ſich nicht, und kaͤmmte ſchweigend
ihr lang herabwallendes rabenſchwarzes Haar. — Flo¬
rentine blickte noch einmal ſcharf hin, dann, vom Ent¬
ſetzen uͤberwaͤltigt, ergriff ſie die Flucht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0059" n="52"/>
ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Gra&#x017F;e zer¬<lb/>
&#x017F;treut, aber der Fru&#x0364;hling hatte den verla&#x017F;&#x017F;enen Berg<lb/>
wieder be&#x017F;tiegen, und &#x017F;pielte fa&#x017F;t wehmu&#x0364;thig in dem<lb/>
&#x017F;tillen Hau&#x017F;e. Selt&#x017F;ame Sagen gingen in der Ge¬<lb/>
gend von die&#x017F;em ein&#x017F;amen Ort. Die Hirten ho&#x0364;rten<lb/>
oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wun¬<lb/>
der&#x017F;cho&#x0364;ne bleiche Frau &#x017F;ollte &#x017F;ich manchmal dort in dem<lb/>
ausgebrochenen Fen&#x017F;ter &#x017F;ehen la&#x017F;&#x017F;en. &#x2014; Florentine war<lb/>
noch nie allein hier gewe&#x017F;en, jetzt verlockte &#x017F;ie der eigene<lb/>
Reiz des Grauens, &#x017F;ie betrat er&#x017F;t vor&#x017F;ichtig und zau¬<lb/>
dernd, dann immer kecker die ku&#x0364;hlen, von oben ver&#x017F;chat¬<lb/>
teten Hallen. Durch die Mauerlu&#x0364;cken blickten zuwei¬<lb/>
len die Tha&#x0364;ler &#x017F;chillernd aus der &#x017F;onnenhellen Tiefe<lb/>
herauf, nur hin und her &#x017F;ang ein Gebirgsvogel mit<lb/>
fremdem Schall, und ver&#x017F;to&#x0364;rte Eidech&#x017F;en fuhren ra&#x017F;chelnd<lb/>
unter das Unkraut, daß &#x017F;ie unwillku&#x0364;rlich zu&#x017F;ammen&#x017F;chrak.</p><lb/>
          <p>Jetzt kam &#x017F;ie in den innern Burghof, da &#x017F;tand<lb/>
ein wilder Kir&#x017F;chbaum in voller Blu&#x0364;te, dunkelrothe<lb/>
Blumen glu&#x0364;hten zwi&#x017F;chen den Steinen, einzelne Schmet¬<lb/>
terlinge flatterten ungewiß in der tru&#x0364;ben, bru&#x0364;tenden<lb/>
Schwu&#x0364;le; und als &#x017F;ie plo&#x0364;tzlich um den Pfeiler trat,<lb/>
&#x017F;ah &#x017F;ie eine &#x017F;cho&#x0364;ne bleiche Frau in einem &#x017F;elt&#x017F;amen<lb/>
himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Ra&#x017F;en<lb/>
&#x017F;itzen, die wandte &#x017F;ich nicht, und ka&#x0364;mmte &#x017F;chweigend<lb/>
ihr lang herabwallendes raben&#x017F;chwarzes Haar. &#x2014; Flo¬<lb/>
rentine blickte noch einmal &#x017F;charf hin, dann, vom Ent¬<lb/>
&#x017F;etzen u&#x0364;berwa&#x0364;ltigt, ergriff &#x017F;ie die Flucht.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[52/0059] ehemaligen Pracht zeugte, lag im hohen Graſe zer¬ ſtreut, aber der Fruͤhling hatte den verlaſſenen Berg wieder beſtiegen, und ſpielte faſt wehmuͤthig in dem ſtillen Hauſe. Seltſame Sagen gingen in der Ge¬ gend von dieſem einſamen Ort. Die Hirten hoͤrten oft bei Nacht fremde Stimmen in der Burg, eine wun¬ derſchoͤne bleiche Frau ſollte ſich manchmal dort in dem ausgebrochenen Fenſter ſehen laſſen. — Florentine war noch nie allein hier geweſen, jetzt verlockte ſie der eigene Reiz des Grauens, ſie betrat erſt vorſichtig und zau¬ dernd, dann immer kecker die kuͤhlen, von oben verſchat¬ teten Hallen. Durch die Mauerluͤcken blickten zuwei¬ len die Thaͤler ſchillernd aus der ſonnenhellen Tiefe herauf, nur hin und her ſang ein Gebirgsvogel mit fremdem Schall, und verſtoͤrte Eidechſen fuhren raſchelnd unter das Unkraut, daß ſie unwillkuͤrlich zuſammenſchrak. Jetzt kam ſie in den innern Burghof, da ſtand ein wilder Kirſchbaum in voller Bluͤte, dunkelrothe Blumen gluͤhten zwiſchen den Steinen, einzelne Schmet¬ terlinge flatterten ungewiß in der truͤben, bruͤtenden Schwuͤle; und als ſie ploͤtzlich um den Pfeiler trat, ſah ſie eine ſchoͤne bleiche Frau in einem ſeltſamen himmelblauen Gewande mitten im Hof auf dem Raſen ſitzen, die wandte ſich nicht, und kaͤmmte ſchweigend ihr lang herabwallendes rabenſchwarzes Haar. — Flo¬ rentine blickte noch einmal ſcharf hin, dann, vom Ent¬ ſetzen uͤberwaͤltigt, ergriff ſie die Flucht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/59
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Dichter und ihre Gesellen. Berlin, 1834, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_dichter_1834/59>, abgerufen am 30.04.2024.