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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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genständlichen Welt und Vernunft -- eine Negation, welche
das Wesen des Glaubens ausmacht -- erreicht im Abend-
mahl ihren höchsten Gipfel, weil hier der Glaube ein unmit-
telbar gegenwärtiges, evidentes, unbezweifelbares
Object negirt
, behauptend: es ist nicht, was es laut des
Zeugnisses der Vernunft und Sinne ist; behauptend: es ist
nur Schein, daß es Brot, in Wahrheit ist es Fleisch. Der
Satz der Scholastiker: es ist den Accidenzen nach Brot, der
Substanz nach Fleisch, ist nämlich nur der abstracte, erklärende
Gedankenausdruck von dem, was der Glaube annimmt und
aussagt, und hat daher keinen andern Sinn als: dem Sin-
nenschein oder der gemeinen Anschauung nach ist es Brot, der
Wahrheit nach aber Fleisch. Wo daher einmal die Einbil-
dungskraft des Glaubens eine solche Gewalt über die Sinne
und Vernunft sich angemaßt hat, daß sie die evidenteste
Sinnenwahrheit läugnet, da ist es auch kein Wunder, wenn
sich die Gläubigen selbst bis zu dem Grade exaltiren konnten,
daß sie wirklich statt Wein Blut fließen sahen. Solche Bei-
spiele hat der Katholicismus aufzuweisen. Es gehört wenig
dazu, außer sich, sinnlich wahrzunehmen, was man im Glau-
ben, in der Einbildung als wirklich annimmt.

So lange der Glaube an das Mysterium der Coena
Domini
als eine heilige, ja die heiligste, höchste Wahrheit
die Menschheit beherrschte, so lange war auch das herrschende
Princip der Menschheit die Einbildungskraft. Alle Kriterien
der Wirklichkeit und Unwirklichkeit, der Unvernunft und Ver-
nunft waren verschwunden -- Alles, was man sich nur im-
mer einbilden konnte, galt für reale Möglichkeit. Die Reli-
gion heiligte jeden Widerspruch mit der Vernunft, mit der Na-
tur der Dinge. Spottet nicht über die albernen Quästionen

genſtändlichen Welt und Vernunft — eine Negation, welche
das Weſen des Glaubens ausmacht — erreicht im Abend-
mahl ihren höchſten Gipfel, weil hier der Glaube ein unmit-
telbar gegenwärtiges, evidentes, unbezweifelbares
Object negirt
, behauptend: es iſt nicht, was es laut des
Zeugniſſes der Vernunft und Sinne iſt; behauptend: es iſt
nur Schein, daß es Brot, in Wahrheit iſt es Fleiſch. Der
Satz der Scholaſtiker: es iſt den Accidenzen nach Brot, der
Subſtanz nach Fleiſch, iſt nämlich nur der abſtracte, erklärende
Gedankenausdruck von dem, was der Glaube annimmt und
ausſagt, und hat daher keinen andern Sinn als: dem Sin-
nenſchein oder der gemeinen Anſchauung nach iſt es Brot, der
Wahrheit nach aber Fleiſch. Wo daher einmal die Einbil-
dungskraft des Glaubens eine ſolche Gewalt über die Sinne
und Vernunft ſich angemaßt hat, daß ſie die evidenteſte
Sinnenwahrheit läugnet, da iſt es auch kein Wunder, wenn
ſich die Gläubigen ſelbſt bis zu dem Grade exaltiren konnten,
daß ſie wirklich ſtatt Wein Blut fließen ſahen. Solche Bei-
ſpiele hat der Katholicismus aufzuweiſen. Es gehört wenig
dazu, außer ſich, ſinnlich wahrzunehmen, was man im Glau-
ben, in der Einbildung als wirklich annimmt.

So lange der Glaube an das Myſterium der Coena
Domini
als eine heilige, ja die heiligſte, höchſte Wahrheit
die Menſchheit beherrſchte, ſo lange war auch das herrſchende
Princip der Menſchheit die Einbildungskraft. Alle Kriterien
der Wirklichkeit und Unwirklichkeit, der Unvernunft und Ver-
nunft waren verſchwunden — Alles, was man ſich nur im-
mer einbilden konnte, galt für reale Möglichkeit. Die Reli-
gion heiligte jeden Widerſpruch mit der Vernunft, mit der Na-
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[330/0348] genſtändlichen Welt und Vernunft — eine Negation, welche das Weſen des Glaubens ausmacht — erreicht im Abend- mahl ihren höchſten Gipfel, weil hier der Glaube ein unmit- telbar gegenwärtiges, evidentes, unbezweifelbares Object negirt, behauptend: es iſt nicht, was es laut des Zeugniſſes der Vernunft und Sinne iſt; behauptend: es iſt nur Schein, daß es Brot, in Wahrheit iſt es Fleiſch. Der Satz der Scholaſtiker: es iſt den Accidenzen nach Brot, der Subſtanz nach Fleiſch, iſt nämlich nur der abſtracte, erklärende Gedankenausdruck von dem, was der Glaube annimmt und ausſagt, und hat daher keinen andern Sinn als: dem Sin- nenſchein oder der gemeinen Anſchauung nach iſt es Brot, der Wahrheit nach aber Fleiſch. Wo daher einmal die Einbil- dungskraft des Glaubens eine ſolche Gewalt über die Sinne und Vernunft ſich angemaßt hat, daß ſie die evidenteſte Sinnenwahrheit läugnet, da iſt es auch kein Wunder, wenn ſich die Gläubigen ſelbſt bis zu dem Grade exaltiren konnten, daß ſie wirklich ſtatt Wein Blut fließen ſahen. Solche Bei- ſpiele hat der Katholicismus aufzuweiſen. Es gehört wenig dazu, außer ſich, ſinnlich wahrzunehmen, was man im Glau- ben, in der Einbildung als wirklich annimmt. So lange der Glaube an das Myſterium der Coena Domini als eine heilige, ja die heiligſte, höchſte Wahrheit die Menſchheit beherrſchte, ſo lange war auch das herrſchende Princip der Menſchheit die Einbildungskraft. Alle Kriterien der Wirklichkeit und Unwirklichkeit, der Unvernunft und Ver- nunft waren verſchwunden — Alles, was man ſich nur im- mer einbilden konnte, galt für reale Möglichkeit. Die Reli- gion heiligte jeden Widerſpruch mit der Vernunft, mit der Na- tur der Dinge. Spottet nicht über die albernen Quäſtionen

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/348>, abgerufen am 11.05.2024.