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Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794.

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lehre frei gelassen hätte, bestimmt werden: Die Wissen-
schaftslehre gäbe dem Grundsatze das Nothwendige und
die Freiheit überhaupt; die besondre Wissenschaft aber
gäbe der Freiheit ihre Bestimmung; und nun wäre die
scharfe Grenzlinie gefunden, und so bald eine an sich
freie Handlung eine bestimmte Richtung bekäme, schrit-
ten wir aus dem Gebiete der allgemeinen Wissenschafts-
lehre, auf das Feld einer besondern Wissenschaft hin-
über. -- Ich mache mich durch zwei Beispiele deutlich.

Die Wissenschaftslehre giebt als nothwendig den
Raum und den Punkt als absolute Grenzen; aber sie
lässt der Einbildungskraft die völlige Freiheit den Punkt
zu setzen, wohin es ihr beliebt. Sobald diese Freiheit
bestimmt wird, z. B. ihn gegen die Begrenzung des
unbegrenzten Raumes fortzubewegen, und dadurch
eine Linie *) zu ziehen, sind wir nicht mehr im Gebie-
te der Wissenschaftslehre, sondern auf dem Boden einer
besondern Wissenschaft, welche Geometrie heisst. Die

Auf-
*) Eine Frage an die Mathematiker! -- Liegt nicht der Begriff
des Geraden schon im Begriffe der Linie? Giebt es andre Linien
als gerade? und ist die sogenannte krumme Linie etwas andres,
als eine Zusammenreihung unendlich vieler, unendlich naher
Punkte? Der Ursprung derselben, als Grenzlinie des unend-
lichen Raums (von dem Ich, als Mittelpunkte werden unend-
lich viele unendliche Radien gezogen, denen aber unsre einge-
schränkte Einbildungskraft doch einen Endpunkt setzen muss;
diese Endpunkte als Eins gedacht, sind die ursprüngliche Kreis-
linie,) scheint mir dafür zu bürgen; und es wird daraus klar,
dass, und warum die Aufgabe, sie durch eine gerade Linie zu
messen, unendlich ist, und nur in einer vollendeten Annäherung
zum Unendlichen erfüllt werden könnte. -- Gleichfalls wird
daraus klar, warum die gerade Linie sich nicht definiren lässt.

lehre frei gelaſſen hätte, beſtimmt werden: Die Wiſſen-
ſchaftslehre gäbe dem Grundſatze das Nothwendige und
die Freiheit überhaupt; die beſondre Wiſſenſchaft aber
gäbe der Freiheit ihre Beſtimmung; und nun wäre die
ſcharfe Grenzlinie gefunden, und ſo bald eine an ſich
freie Handlung eine beſtimmte Richtung bekäme, ſchrit-
ten wir aus dem Gebiete der allgemeinen Wiſſenſchafts-
lehre, auf das Feld einer beſondern Wiſſenſchaft hin-
über. — Ich mache mich durch zwei Beiſpiele deutlich.

Die Wiſſenſchaftslehre giebt als nothwendig den
Raum und den Punkt als abſolute Grenzen; aber ſie
läſst der Einbildungskraft die völlige Freiheit den Punkt
zu ſetzen, wohin es ihr beliebt. Sobald dieſe Freiheit
beſtimmt wird, z. B. ihn gegen die Begrenzung des
unbegrenzten Raumes fortzubewegen, und dadurch
eine Linie *) zu ziehen, ſind wir nicht mehr im Gebie-
te der Wiſſenſchaftslehre, ſondern auf dem Boden einer
beſondern Wiſſenſchaft, welche Geometrie heiſst. Die

Auf-
*) Eine Frage an die Mathematiker! — Liegt nicht der Begriff
des Geraden ſchon im Begriffe der Linie? Giebt es andre Linien
als gerade? und iſt die ſogenannte krumme Linie etwas andres,
als eine Zuſammenreihung unendlich vieler, unendlich naher
Punkte? Der Urſprung derſelben, als Grenzlinie des unend-
lichen Raums (von dem Ich, als Mittelpunkte werden unend-
lich viele unendliche Radien gezogen, denen aber unſre einge-
ſchränkte Einbildungskraft doch einen Endpunkt ſetzen muſs;
dieſe Endpunkte als Eins gedacht, ſind die urſprüngliche Kreis-
linie,) ſcheint mir dafür zu bürgen; und es wird daraus klar,
daſs, und warum die Aufgabe, ſie durch eine gerade Linie zu
meſſen, unendlich iſt, und nur in einer vollendeten Annäherung
zum Unendlichen erfüllt werden könnte. — Gleichfalls wird
daraus klar, warum die gerade Linie ſich nicht definiren läſst.
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[42/0050] lehre frei gelaſſen hätte, beſtimmt werden: Die Wiſſen- ſchaftslehre gäbe dem Grundſatze das Nothwendige und die Freiheit überhaupt; die beſondre Wiſſenſchaft aber gäbe der Freiheit ihre Beſtimmung; und nun wäre die ſcharfe Grenzlinie gefunden, und ſo bald eine an ſich freie Handlung eine beſtimmte Richtung bekäme, ſchrit- ten wir aus dem Gebiete der allgemeinen Wiſſenſchafts- lehre, auf das Feld einer beſondern Wiſſenſchaft hin- über. — Ich mache mich durch zwei Beiſpiele deutlich. Die Wiſſenſchaftslehre giebt als nothwendig den Raum und den Punkt als abſolute Grenzen; aber ſie läſst der Einbildungskraft die völlige Freiheit den Punkt zu ſetzen, wohin es ihr beliebt. Sobald dieſe Freiheit beſtimmt wird, z. B. ihn gegen die Begrenzung des unbegrenzten Raumes fortzubewegen, und dadurch eine Linie *) zu ziehen, ſind wir nicht mehr im Gebie- te der Wiſſenſchaftslehre, ſondern auf dem Boden einer beſondern Wiſſenſchaft, welche Geometrie heiſst. Die Auf- *) Eine Frage an die Mathematiker! — Liegt nicht der Begriff des Geraden ſchon im Begriffe der Linie? Giebt es andre Linien als gerade? und iſt die ſogenannte krumme Linie etwas andres, als eine Zuſammenreihung unendlich vieler, unendlich naher Punkte? Der Urſprung derſelben, als Grenzlinie des unend- lichen Raums (von dem Ich, als Mittelpunkte werden unend- lich viele unendliche Radien gezogen, denen aber unſre einge- ſchränkte Einbildungskraft doch einen Endpunkt ſetzen muſs; dieſe Endpunkte als Eins gedacht, ſind die urſprüngliche Kreis- linie,) ſcheint mir dafür zu bürgen; und es wird daraus klar, daſs, und warum die Aufgabe, ſie durch eine gerade Linie zu meſſen, unendlich iſt, und nur in einer vollendeten Annäherung zum Unendlichen erfüllt werden könnte. — Gleichfalls wird daraus klar, warum die gerade Linie ſich nicht definiren läſst.

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Zitationshilfe: Fichte, Johann Gottlieb: Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie. Weimar, 1794, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fichte_wissenschaftslehre_1794/50>, abgerufen am 27.04.2024.