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Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887.

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besäßen; was wir als sichtbar in unserem sehenden Be¬
wußtsein wahrnehmen, sind unzusammenhängende Bruch¬
stücke, flüchtige, vorübergehende Erscheinungen, und wir
stehen hülflos da, wenn das Bedürfniß in uns mächtig
wird, uns ein zu Sehendes sichtbar zu vergegenwärtigen.
Wie aber, wenn uns in einzelnen Augenblicken der wachen
oder traumhaften Hallucination, ja wenn uns bei unmittel¬
barer Wahrnehmung das sichtbare Bild eines Gegenstandes
in unzweifelhafter Gegenwart und voller Deutlichkeit vor
das schauende Bewußtsein tritt? Kann man da von einem
unentwickelten vorstellenden Bewußtsein, von Schranken
reden, welche in der menschlichen Natur selbst der Ent¬
wickelung jenes schauenden Wirklichkeitsbewußtseins ent¬
gegenstehen? Und doch, wer es vermag, sich selbst mit
dem, was er sieht, zu isoliren, nichts anderes in sich auf¬
kommen zu lassen, als das Phänomen des Sehens, sich in
das Schauen zu versenken, wird der nicht vor dem, was
sich seinem Auge als Erscheinung zeigt, gar bald wie vor
einem ihm fremden, unnahbaren Räthsel stehen? Wird
nicht, wenn sein Bewußtsein nicht in eine gewisse Ver¬
dumpfung verfallen soll, die eine Herabsetzung aller Fähig¬
keiten, auch der des Sehens nach sich zieht, das Verlangen
in ihm rege werden, sich dieses fremde Gebild anzueignen,
gleichsam erst zu sehen, wie es aussieht, sich mit seinen
Augen Rechenschaft über dasselbe zu geben, es als etwas
Gesehenes aus eigener erzeugender Kraft zu verwirklichen?
Und wenn er sich dann eingestehen muß, daß jenem Ver¬
langen keine Fähigkeit entspricht, durch die er dasselbe be¬

beſäßen; was wir als ſichtbar in unſerem ſehenden Be¬
wußtſein wahrnehmen, ſind unzuſammenhängende Bruch¬
ſtücke, flüchtige, vorübergehende Erſcheinungen, und wir
ſtehen hülflos da, wenn das Bedürfniß in uns mächtig
wird, uns ein zu Sehendes ſichtbar zu vergegenwärtigen.
Wie aber, wenn uns in einzelnen Augenblicken der wachen
oder traumhaften Hallucination, ja wenn uns bei unmittel¬
barer Wahrnehmung das ſichtbare Bild eines Gegenſtandes
in unzweifelhafter Gegenwart und voller Deutlichkeit vor
das ſchauende Bewußtſein tritt? Kann man da von einem
unentwickelten vorſtellenden Bewußtſein, von Schranken
reden, welche in der menſchlichen Natur ſelbſt der Ent¬
wickelung jenes ſchauenden Wirklichkeitsbewußtſeins ent¬
gegenſtehen? Und doch, wer es vermag, ſich ſelbſt mit
dem, was er ſieht, zu iſoliren, nichts anderes in ſich auf¬
kommen zu laſſen, als das Phänomen des Sehens, ſich in
das Schauen zu verſenken, wird der nicht vor dem, was
ſich ſeinem Auge als Erſcheinung zeigt, gar bald wie vor
einem ihm fremden, unnahbaren Räthſel ſtehen? Wird
nicht, wenn ſein Bewußtſein nicht in eine gewiſſe Ver¬
dumpfung verfallen ſoll, die eine Herabſetzung aller Fähig¬
keiten, auch der des Sehens nach ſich zieht, das Verlangen
in ihm rege werden, ſich dieſes fremde Gebild anzueignen,
gleichſam erſt zu ſehen, wie es ausſieht, ſich mit ſeinen
Augen Rechenſchaft über daſſelbe zu geben, es als etwas
Geſehenes aus eigener erzeugender Kraft zu verwirklichen?
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langen keine Fähigkeit entſpricht, durch die er daſſelbe be¬

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[71/0083] beſäßen; was wir als ſichtbar in unſerem ſehenden Be¬ wußtſein wahrnehmen, ſind unzuſammenhängende Bruch¬ ſtücke, flüchtige, vorübergehende Erſcheinungen, und wir ſtehen hülflos da, wenn das Bedürfniß in uns mächtig wird, uns ein zu Sehendes ſichtbar zu vergegenwärtigen. Wie aber, wenn uns in einzelnen Augenblicken der wachen oder traumhaften Hallucination, ja wenn uns bei unmittel¬ barer Wahrnehmung das ſichtbare Bild eines Gegenſtandes in unzweifelhafter Gegenwart und voller Deutlichkeit vor das ſchauende Bewußtſein tritt? Kann man da von einem unentwickelten vorſtellenden Bewußtſein, von Schranken reden, welche in der menſchlichen Natur ſelbſt der Ent¬ wickelung jenes ſchauenden Wirklichkeitsbewußtſeins ent¬ gegenſtehen? Und doch, wer es vermag, ſich ſelbſt mit dem, was er ſieht, zu iſoliren, nichts anderes in ſich auf¬ kommen zu laſſen, als das Phänomen des Sehens, ſich in das Schauen zu verſenken, wird der nicht vor dem, was ſich ſeinem Auge als Erſcheinung zeigt, gar bald wie vor einem ihm fremden, unnahbaren Räthſel ſtehen? Wird nicht, wenn ſein Bewußtſein nicht in eine gewiſſe Ver¬ dumpfung verfallen ſoll, die eine Herabſetzung aller Fähig¬ keiten, auch der des Sehens nach ſich zieht, das Verlangen in ihm rege werden, ſich dieſes fremde Gebild anzueignen, gleichſam erſt zu ſehen, wie es ausſieht, ſich mit ſeinen Augen Rechenſchaft über daſſelbe zu geben, es als etwas Geſehenes aus eigener erzeugender Kraft zu verwirklichen? Und wenn er ſich dann eingeſtehen muß, daß jenem Ver¬ langen keine Fähigkeit entſpricht, durch die er daſſelbe be¬

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Zitationshilfe: Fiedler, Konrad: Der Ursprung der künstlerischen Thätigkeit. Leipzig, 1887, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fiedler_kuenstlerische_1887/83>, abgerufen am 30.04.2024.