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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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die scharfblickende Frau so lange verblendet hatte? Ob
sie nicht freiwillig die Augen geschlossen, so lange ein
Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich
glaube das letztere. Sie würde mit diesem Manne,
sie würde für ihn gedarbt, ja sie würde seine Untreue
geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen
gewesen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen
die alternde Schöne den verwöhnten Lüstling gefesselt
hatte, sie sah sie geschmolzen. Kein Jahr mehr dieses
schrankenlose Treiben und sie war eine verlassene
Bettlerin. So willigte sie denn in eine Scheidung
als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz,
sondern einfach ihre Existenzmittel zu retten. Der
flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬
stattete, seine Wünschelruthe nach einem neuen Glücks¬
born auszuwerfen.

Während er nun in Italien und Rußland, den
beiden Pflegestätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer
jener Zeit, das unstäte Treiben seiner Jugendjahre
erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, gestaltete
die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um so stätiger.
Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr
schön und, nach ihrem Maaßstabe, arm. Was Wun¬
der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß sie ihr verhaßt

die ſcharfblickende Frau ſo lange verblendet hatte? Ob
ſie nicht freiwillig die Augen geſchloſſen, ſo lange ein
Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich
glaube das letztere. Sie würde mit dieſem Manne,
ſie würde für ihn gedarbt, ja ſie würde ſeine Untreue
geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen
geweſen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen
die alternde Schöne den verwöhnten Lüſtling gefeſſelt
hatte, ſie ſah ſie geſchmolzen. Kein Jahr mehr dieſes
ſchrankenloſe Treiben und ſie war eine verlaſſene
Bettlerin. So willigte ſie denn in eine Scheidung
als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz,
ſondern einfach ihre Exiſtenzmittel zu retten. Der
flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬
ſtattete, ſeine Wünſchelruthe nach einem neuen Glücks¬
born auszuwerfen.

Während er nun in Italien und Rußland, den
beiden Pflegeſtätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer
jener Zeit, das unſtäte Treiben ſeiner Jugendjahre
erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, geſtaltete
die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um ſo ſtätiger.
Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr
ſchön und, nach ihrem Maaßſtabe, arm. Was Wun¬
der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß ſie ihr verhaßt

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[167/0174] die ſcharfblickende Frau ſo lange verblendet hatte? Ob ſie nicht freiwillig die Augen geſchloſſen, ſo lange ein Tropfen in ihrem Freudenkelche übrig blieb? Ich glaube das letztere. Sie würde mit dieſem Manne, ſie würde für ihn gedarbt, ja ſie würde ſeine Untreue geduldet haben, wenn er an ihrer Seite zu bannen geweſen wäre. Aber die goldenen Ketten, mit welchen die alternde Schöne den verwöhnten Lüſtling gefeſſelt hatte, ſie ſah ſie geſchmolzen. Kein Jahr mehr dieſes ſchrankenloſe Treiben und ſie war eine verlaſſene Bettlerin. So willigte ſie denn in eine Scheidung als den einzigen Weg, nicht etwa den bisherigen Glanz, ſondern einfach ihre Exiſtenzmittel zu retten. Der flottlebige Herr jubelte über eine Freiheit, die ihm ge¬ ſtattete, ſeine Wünſchelruthe nach einem neuen Glücks¬ born auszuwerfen. Während er nun in Italien und Rußland, den beiden Pflegeſtätten prinzlicher wie plebejer Abenteurer jener Zeit, das unſtäte Treiben ſeiner Jugendjahre erneuerte, heute Soldat und morgen Seladon, geſtaltete die Gräfin ihren ferneren Lebenslauf um ſo ſtätiger. Sie zählte mehr als vierzig Jahre, war nicht mehr ſchön und, nach ihrem Maaßſtabe, arm. Was Wun¬ der, daß ihr die Welt verleidet, ja daß ſie ihr verhaßt

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/174>, abgerufen am 30.04.2024.