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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871.

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dauer gegründete, junge Colonie den Wahrspruch ihres
Hauses: "In Recht und Ehren" eingepflanzt und sie
vor jeder entsittlichenden Berührung gehütet hatte, einem
Spiegel gleich, den der leiseste Moderhauch trübt.

Und wir Reckenburger Leute hatten sie gekannt
fast noch als ein Kind; ihr Leben lag vor uns durch¬
sichtig und eben wie ein Krystall. Da war kein Schatten,
keine Lücke, ja nicht einmal eine gemüthliche Regung,
welche eine Heimlichkeit hätte ahnen lassen. Der
Wechsel unserer beiden letzten Herrinnen, der gespensti¬
schen Urgreisin im Goldthurme, mit deren Beschwörung
wohl heute noch die Mütter ihre Kinder zur Ruhe
scheuchen, und der heute im fünfzigsten Jahre noch
frisch und kräftig, fast wie im fünfzehnten, ausschauen¬
den und schaffenden Hardine glich dem des Tages
mit der Nacht.

So stand sie vor Hoch und Gering ehrenreich
und ehrenrein wie keine Zweite; so stand sie im Kreise
der Notabeln ihrer Gegend, an der Seite des Mannes,
der für ihren einzigen Vertrauten galt, und den man
neuerdings vielfach den Erkorenen für ihr freies Erbe
nannte, als ein landstreichender Bettler, der erste seiner
Art, der ihr Gehege zu betreten wagte, sich zu einer
Bezüchtigung, zu einer Anforderung an sie erdreistete,

dauer gegründete, junge Colonie den Wahrſpruch ihres
Hauſes: „In Recht und Ehren“ eingepflanzt und ſie
vor jeder entſittlichenden Berührung gehütet hatte, einem
Spiegel gleich, den der leiſeſte Moderhauch trübt.

Und wir Reckenburger Leute hatten ſie gekannt
faſt noch als ein Kind; ihr Leben lag vor uns durch¬
ſichtig und eben wie ein Kryſtall. Da war kein Schatten,
keine Lücke, ja nicht einmal eine gemüthliche Regung,
welche eine Heimlichkeit hätte ahnen laſſen. Der
Wechſel unſerer beiden letzten Herrinnen, der geſpenſti¬
ſchen Urgreiſin im Goldthurme, mit deren Beſchwörung
wohl heute noch die Mütter ihre Kinder zur Ruhe
ſcheuchen, und der heute im fünfzigſten Jahre noch
friſch und kräftig, faſt wie im fünfzehnten, ausſchauen¬
den und ſchaffenden Hardine glich dem des Tages
mit der Nacht.

So ſtand ſie vor Hoch und Gering ehrenreich
und ehrenrein wie keine Zweite; ſo ſtand ſie im Kreiſe
der Notabeln ihrer Gegend, an der Seite des Mannes,
der für ihren einzigen Vertrauten galt, und den man
neuerdings vielfach den Erkorenen für ihr freies Erbe
nannte, als ein landſtreichender Bettler, der erſte ſeiner
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[74/0081] dauer gegründete, junge Colonie den Wahrſpruch ihres Hauſes: „In Recht und Ehren“ eingepflanzt und ſie vor jeder entſittlichenden Berührung gehütet hatte, einem Spiegel gleich, den der leiſeſte Moderhauch trübt. Und wir Reckenburger Leute hatten ſie gekannt faſt noch als ein Kind; ihr Leben lag vor uns durch¬ ſichtig und eben wie ein Kryſtall. Da war kein Schatten, keine Lücke, ja nicht einmal eine gemüthliche Regung, welche eine Heimlichkeit hätte ahnen laſſen. Der Wechſel unſerer beiden letzten Herrinnen, der geſpenſti¬ ſchen Urgreiſin im Goldthurme, mit deren Beſchwörung wohl heute noch die Mütter ihre Kinder zur Ruhe ſcheuchen, und der heute im fünfzigſten Jahre noch friſch und kräftig, faſt wie im fünfzehnten, ausſchauen¬ den und ſchaffenden Hardine glich dem des Tages mit der Nacht. So ſtand ſie vor Hoch und Gering ehrenreich und ehrenrein wie keine Zweite; ſo ſtand ſie im Kreiſe der Notabeln ihrer Gegend, an der Seite des Mannes, der für ihren einzigen Vertrauten galt, und den man neuerdings vielfach den Erkorenen für ihr freies Erbe nannte, als ein landſtreichender Bettler, der erſte ſeiner Art, der ihr Gehege zu betreten wagte, ſich zu einer Bezüchtigung, zu einer Anforderung an ſie erdreiſtete,

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 1. Berlin, 1871, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin01_1871/81>, abgerufen am 01.05.2024.