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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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hatte, griff sie in die Tasche, zog den Zettel hervor, auf dem ihre letztgesprochenen Worte zu lesen waren, schüttelte den Kopf und sah mich erstaunt an.

Seit diesem Besuche im Mai 1890 wurden meine Nachrichten über Frau v. N .. allmählich spärlicher. Ich erfuhr auf Umwegen, dass der unerquickliche Zustand ihrer Tochter, der die mannigfaltigsten peinlichen Erregungen für sie mit sich brachte, ihr Wohlbefinden endlich doch untergraben habe. Zuletzt erhielt ich von ihr (Sommer 1893) ein kurzes Schreiben, in dem sie mich bat zu gestatten, dass sie ein anderer Arzt hypnotisire, da sie wieder leidend sei und nicht nach Wien kommen könne. Ich verstand anfangs nicht, weshalb es dazu meiner Erlaubniss bedürfe, bis mir die Erinnerung auftauchte, dass ich sie im Jahre 1890 auf ihren eigenen Wunsch vor fremder Hypnose geschützt hatte, damit sie nicht wieder in Gefahr komme, wie damals in **berg (. . .thal, . . .wald) unter dem peinlichen Zwang eines ihr unsympathischen Arztes zu leiden. Ich verzichtete jetzt also schriftlich auf mein ausschliessliches Vorrecht.

Epikrise.

Es ist ja ohne vorherige eingehende Verständigung über den Werth und die Bedeutung der Namen nicht leicht zu entscheiden, ob ein Krankheitsfall zur Hysterie oder zu den anderen (nicht rein neurasthenischen) Neurosen gezählt werden soll, und auf dem Gebiete der gemeinhin vorkommenden gemischten Neurosen wartet man noch auf die ordnende Hand, welche die Grenzsteine setzen und die für die Charakteristik wesentlichen Merkmale hervorheben soll. Wenn man bis jetzt also Hysterie im engeren Sinne nach der Aehnlichkeit mit den bekannten typischen Fällen zu diagnosticiren gewohnt ist, so wird man dem Falle der Frau Emmy v. N . . die Bezeichnung einer Hysterie kaum streitig machen können. Die Leichtigkeit der Delirien und Hallucinationen bei im Uebrigen intacter geistiger Thätigkeit, die Veränderung der Persönlichkeit und des Gedächtnisses im künstlichen Somnambulismus, die Anästhesie an der schmerzhaften Extremität, gewisse Daten der Anamnese, die Ovarie und dgl. lassen keinen Zweifel über die hysterische Natur der Erkrankung oder wenigstens der Kranken zu. Dass die Frage überhaupt aufgeworfen werden kann, rührt von einem bestimmten Charakter dieses Falles her, welcher auch Anlass zu einer allgemein giltigen Bemerkung bieten darf. Wie aus unserer Eingangs abgedruckten "Vorläufigen Mittheilung" ersichtlich, betrachten

hatte, griff sie in die Tasche, zog den Zettel hervor, auf dem ihre letztgesprochenen Worte zu lesen waren, schüttelte den Kopf und sah mich erstaunt an.

Seit diesem Besuche im Mai 1890 wurden meine Nachrichten über Frau v. N .. allmählich spärlicher. Ich erfuhr auf Umwegen, dass der unerquickliche Zustand ihrer Tochter, der die mannigfaltigsten peinlichen Erregungen für sie mit sich brachte, ihr Wohlbefinden endlich doch untergraben habe. Zuletzt erhielt ich von ihr (Sommer 1893) ein kurzes Schreiben, in dem sie mich bat zu gestatten, dass sie ein anderer Arzt hypnotisire, da sie wieder leidend sei und nicht nach Wien kommen könne. Ich verstand anfangs nicht, weshalb es dazu meiner Erlaubniss bedürfe, bis mir die Erinnerung auftauchte, dass ich sie im Jahre 1890 auf ihren eigenen Wunsch vor fremder Hypnose geschützt hatte, damit sie nicht wieder in Gefahr komme, wie damals in **berg (. . .thal, . . .wald) unter dem peinlichen Zwang eines ihr unsympathischen Arztes zu leiden. Ich verzichtete jetzt also schriftlich auf mein ausschliessliches Vorrecht.

Epikrise.

Es ist ja ohne vorherige eingehende Verständigung über den Werth und die Bedeutung der Namen nicht leicht zu entscheiden, ob ein Krankheitsfall zur Hysterie oder zu den anderen (nicht rein neurasthenischen) Neurosen gezählt werden soll, und auf dem Gebiete der gemeinhin vorkommenden gemischten Neurosen wartet man noch auf die ordnende Hand, welche die Grenzsteine setzen und die für die Charakteristik wesentlichen Merkmale hervorheben soll. Wenn man bis jetzt also Hysterie im engeren Sinne nach der Aehnlichkeit mit den bekannten typischen Fällen zu diagnosticiren gewohnt ist, so wird man dem Falle der Frau Emmy v. N . . die Bezeichnung einer Hysterie kaum streitig machen können. Die Leichtigkeit der Delirien und Hallucinationen bei im Uebrigen intacter geistiger Thätigkeit, die Veränderung der Persönlichkeit und des Gedächtnisses im künstlichen Somnambulismus, die Anästhesie an der schmerzhaften Extremität, gewisse Daten der Anamnese, die Ovarie und dgl. lassen keinen Zweifel über die hysterische Natur der Erkrankung oder wenigstens der Kranken zu. Dass die Frage überhaupt aufgeworfen werden kann, rührt von einem bestimmten Charakter dieses Falles her, welcher auch Anlass zu einer allgemein giltigen Bemerkung bieten darf. Wie aus unserer Eingangs abgedruckten „Vorläufigen Mittheilung“ ersichtlich, betrachten

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[72/0078] hatte, griff sie in die Tasche, zog den Zettel hervor, auf dem ihre letztgesprochenen Worte zu lesen waren, schüttelte den Kopf und sah mich erstaunt an. Seit diesem Besuche im Mai 1890 wurden meine Nachrichten über Frau v. N .. allmählich spärlicher. Ich erfuhr auf Umwegen, dass der unerquickliche Zustand ihrer Tochter, der die mannigfaltigsten peinlichen Erregungen für sie mit sich brachte, ihr Wohlbefinden endlich doch untergraben habe. Zuletzt erhielt ich von ihr (Sommer 1893) ein kurzes Schreiben, in dem sie mich bat zu gestatten, dass sie ein anderer Arzt hypnotisire, da sie wieder leidend sei und nicht nach Wien kommen könne. Ich verstand anfangs nicht, weshalb es dazu meiner Erlaubniss bedürfe, bis mir die Erinnerung auftauchte, dass ich sie im Jahre 1890 auf ihren eigenen Wunsch vor fremder Hypnose geschützt hatte, damit sie nicht wieder in Gefahr komme, wie damals in **berg (. . .thal, . . .wald) unter dem peinlichen Zwang eines ihr unsympathischen Arztes zu leiden. Ich verzichtete jetzt also schriftlich auf mein ausschliessliches Vorrecht. Epikrise. Es ist ja ohne vorherige eingehende Verständigung über den Werth und die Bedeutung der Namen nicht leicht zu entscheiden, ob ein Krankheitsfall zur Hysterie oder zu den anderen (nicht rein neurasthenischen) Neurosen gezählt werden soll, und auf dem Gebiete der gemeinhin vorkommenden gemischten Neurosen wartet man noch auf die ordnende Hand, welche die Grenzsteine setzen und die für die Charakteristik wesentlichen Merkmale hervorheben soll. Wenn man bis jetzt also Hysterie im engeren Sinne nach der Aehnlichkeit mit den bekannten typischen Fällen zu diagnosticiren gewohnt ist, so wird man dem Falle der Frau Emmy v. N . . die Bezeichnung einer Hysterie kaum streitig machen können. Die Leichtigkeit der Delirien und Hallucinationen bei im Uebrigen intacter geistiger Thätigkeit, die Veränderung der Persönlichkeit und des Gedächtnisses im künstlichen Somnambulismus, die Anästhesie an der schmerzhaften Extremität, gewisse Daten der Anamnese, die Ovarie und dgl. lassen keinen Zweifel über die hysterische Natur der Erkrankung oder wenigstens der Kranken zu. Dass die Frage überhaupt aufgeworfen werden kann, rührt von einem bestimmten Charakter dieses Falles her, welcher auch Anlass zu einer allgemein giltigen Bemerkung bieten darf. Wie aus unserer Eingangs abgedruckten „Vorläufigen Mittheilung“ ersichtlich, betrachten

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/78>, abgerufen am 16.04.2024.