Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Anmerkungen über Gellerts Moral,
ständig, und für ihn, zum besten Gebrauche sei-
ner Talente, hinreichend. Er war, besonders in
den letzten Jahren seines Lebens, einer strengen
und anhaltenden Aufmerksamkeit nicht fähig. Ue-
berdieß schränkten sich seine Absichten immer mehr
auf seine moralische Vollkommenheit ein. Selbst
die Beschaffenheit seines Geistes machte, daß nur
wenig Bücher von ihm mit großer Begierde gele-
sen werden konnten. Dem Geiste, der selbst thä-
tig seyn kann, wird es immer schwer, sich bloß
von Andern beschäfstigen zu lassen. Das Genie
bringt lieber Ideen hervor, als daß es sich die-
selben mittheilen läßt. Ueberdieß giebt die Leb-
haftigkeit der Einbildungskraft und der Empfin-
dung dem Menschen eine gewisse Unruhe, die sich
mit dem stillsitzenden Fleiße des unermüdeten Bü-
cherlesens wenig verträgt. Wenn aber Gelehr-
samkeit so viel heißt, als ein aufgeklärter und be-
reicherter Geist; so hatte sie Gellert in dem vor-
züglichsten Grade.

In seinen Schriften herrschet noch außer allen
diesen Fähigkeiten eine so einnehmende Munterkeit,

Anmerkungen uͤber Gellerts Moral,
ſtaͤndig, und fuͤr ihn, zum beſten Gebrauche ſei-
ner Talente, hinreichend. Er war, beſonders in
den letzten Jahren ſeines Lebens, einer ſtrengen
und anhaltenden Aufmerkſamkeit nicht faͤhig. Ue-
berdieß ſchraͤnkten ſich ſeine Abſichten immer mehr
auf ſeine moraliſche Vollkommenheit ein. Selbſt
die Beſchaffenheit ſeines Geiſtes machte, daß nur
wenig Buͤcher von ihm mit großer Begierde gele-
ſen werden konnten. Dem Geiſte, der ſelbſt thaͤ-
tig ſeyn kann, wird es immer ſchwer, ſich bloß
von Andern beſchaͤfſtigen zu laſſen. Das Genie
bringt lieber Ideen hervor, als daß es ſich die-
ſelben mittheilen laͤßt. Ueberdieß giebt die Leb-
haftigkeit der Einbildungskraft und der Empfin-
dung dem Menſchen eine gewiſſe Unruhe, die ſich
mit dem ſtillſitzenden Fleiße des unermuͤdeten Buͤ-
cherleſens wenig vertraͤgt. Wenn aber Gelehr-
ſamkeit ſo viel heißt, als ein aufgeklaͤrter und be-
reicherter Geiſt; ſo hatte ſie Gellert in dem vor-
zuͤglichſten Grade.

In ſeinen Schriften herrſchet noch außer allen
dieſen Faͤhigkeiten eine ſo einnehmende Munterkeit,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0238" n="232"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Anmerkungen u&#x0364;ber Gellerts Moral,</hi></fw><lb/>
&#x017F;ta&#x0364;ndig, und fu&#x0364;r ihn, zum be&#x017F;ten Gebrauche &#x017F;ei-<lb/>
ner Talente, hinreichend. Er war, be&#x017F;onders in<lb/>
den letzten Jahren &#x017F;eines Lebens, einer &#x017F;trengen<lb/>
und anhaltenden Aufmerk&#x017F;amkeit nicht fa&#x0364;hig. Ue-<lb/>
berdieß &#x017F;chra&#x0364;nkten &#x017F;ich &#x017F;eine Ab&#x017F;ichten immer mehr<lb/>
auf &#x017F;eine morali&#x017F;che Vollkommenheit ein. Selb&#x017F;t<lb/>
die Be&#x017F;chaffenheit &#x017F;eines Gei&#x017F;tes machte, daß nur<lb/>
wenig Bu&#x0364;cher von ihm mit großer Begierde gele-<lb/>
&#x017F;en werden konnten. Dem Gei&#x017F;te, der &#x017F;elb&#x017F;t tha&#x0364;-<lb/>
tig &#x017F;eyn kann, wird es immer &#x017F;chwer, &#x017F;ich bloß<lb/>
von Andern be&#x017F;cha&#x0364;f&#x017F;tigen zu la&#x017F;&#x017F;en. Das Genie<lb/>
bringt lieber Ideen hervor, als daß es &#x017F;ich die-<lb/>
&#x017F;elben mittheilen la&#x0364;ßt. Ueberdieß giebt die Leb-<lb/>
haftigkeit der Einbildungskraft und der Empfin-<lb/>
dung dem Men&#x017F;chen eine gewi&#x017F;&#x017F;e Unruhe, die &#x017F;ich<lb/>
mit dem &#x017F;till&#x017F;itzenden Fleiße des unermu&#x0364;deten Bu&#x0364;-<lb/>
cherle&#x017F;ens wenig vertra&#x0364;gt. Wenn aber Gelehr-<lb/>
&#x017F;amkeit &#x017F;o viel heißt, als ein aufgekla&#x0364;rter und be-<lb/>
reicherter Gei&#x017F;t; &#x017F;o hatte &#x017F;ie Gellert in dem vor-<lb/>
zu&#x0364;glich&#x017F;ten Grade.</p><lb/>
        <p>In &#x017F;einen Schriften herr&#x017F;chet noch außer allen<lb/>
die&#x017F;en Fa&#x0364;higkeiten eine &#x017F;o einnehmende Munterkeit,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0238] Anmerkungen uͤber Gellerts Moral, ſtaͤndig, und fuͤr ihn, zum beſten Gebrauche ſei- ner Talente, hinreichend. Er war, beſonders in den letzten Jahren ſeines Lebens, einer ſtrengen und anhaltenden Aufmerkſamkeit nicht faͤhig. Ue- berdieß ſchraͤnkten ſich ſeine Abſichten immer mehr auf ſeine moraliſche Vollkommenheit ein. Selbſt die Beſchaffenheit ſeines Geiſtes machte, daß nur wenig Buͤcher von ihm mit großer Begierde gele- ſen werden konnten. Dem Geiſte, der ſelbſt thaͤ- tig ſeyn kann, wird es immer ſchwer, ſich bloß von Andern beſchaͤfſtigen zu laſſen. Das Genie bringt lieber Ideen hervor, als daß es ſich die- ſelben mittheilen laͤßt. Ueberdieß giebt die Leb- haftigkeit der Einbildungskraft und der Empfin- dung dem Menſchen eine gewiſſe Unruhe, die ſich mit dem ſtillſitzenden Fleiße des unermuͤdeten Buͤ- cherleſens wenig vertraͤgt. Wenn aber Gelehr- ſamkeit ſo viel heißt, als ein aufgeklaͤrter und be- reicherter Geiſt; ſo hatte ſie Gellert in dem vor- zuͤglichſten Grade. In ſeinen Schriften herrſchet noch außer allen dieſen Faͤhigkeiten eine ſo einnehmende Munterkeit,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/238
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/238>, abgerufen am 27.04.2024.