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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798.

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wenn sie durch ein Loch in einer vorliegenden Wand gehen, sich hinter demselben nicht blos in einer einzigen geraden Linie fortpflanzen, sondern nach allen Seiten zu ausbreiten. Dem zu Folge müßte man die Sonne im verfinsterten Zimmer, das eine Oefnung im Laden hat, nicht blos in der geraden Linie, die sich von der Sonne durch die Oefnung ziehen läßt, sondern an allen Orten sehen, wie man den Schall, der durchs Fenster dringt, im Zimmer an allen Orten hört, welches doch der klaren Erfahrung zuwider ist. Euler widerlegt Newtons Satz nicht. Er weiß sich nicht anders zu helfen, als daß er geradehin behauptet, der Schall verbreite sich auch nicht diesem Satze gemäß. Es sey zwar wahr, daß man den Schall überall im Zimmer gleich stark höre; aber Niemand glaube doch, daß der schallende Körper im Fenster oder im Loche der Wand befindlich sey, wie man doch glauben müßte, wenn sich der Schall von da aus verbreitete. Bey verstopftem Loche höre man den Schall fast eben so gut; also dringe er in gerader Linie durch die Wände des Zimmers, welche hier gleichsam die Stelle durchsichtiger Körper vertreten. Könnte man Wände anlegen, die für den Schall undurchdringlich wären, welches er für unmöglich hält, so würde man den Schall blos in der geraden Linie hören, die durch den schallenden Körper und das Loch gienge. Dies heißt: einen theoretisch erwiesenen Satz durch Erfahrungen bestreiten wollen, deren Anstellung man selbst für unmöglich hält. Inzwischen ist hier die Erfahrung weder unmöglich, noch auf Eulers Seite. Herr Klügel (Priestley Geschichte der Optik, S. 262.) glaubt den Versuch wirklich angestellt zu haben. Der Erfolg dabey war nicht so, wie Euler vermuthet; denn es war ziemlich entschieden, daß der Schall nicht nach der geraden Linie ins Ohr kam.

Man wird mir erlauben, noch folgende Erfahrung hinzuzusetzen. Wenn man durch ein Blaserohr redet, so hört Jedermann die Worte so, als ob sie am Ende des Rohrs ausgesprochen würden. Hier verbreitet sich doch der Schall offenbar von der Oefnung aus nach allen Seiten, ob er gleich im Rohre selbst nur nach der geraden Linie fortgehen


wenn ſie durch ein Loch in einer vorliegenden Wand gehen, ſich hinter demſelben nicht blos in einer einzigen geraden Linie fortpflanzen, ſondern nach allen Seiten zu ausbreiten. Dem zu Folge muͤßte man die Sonne im verfinſterten Zimmer, das eine Oefnung im Laden hat, nicht blos in der geraden Linie, die ſich von der Sonne durch die Oefnung ziehen laͤßt, ſondern an allen Orten ſehen, wie man den Schall, der durchs Fenſter dringt, im Zimmer an allen Orten hoͤrt, welches doch der klaren Erfahrung zuwider iſt. Euler widerlegt Newtons Satz nicht. Er weiß ſich nicht anders zu helfen, als daß er geradehin behauptet, der Schall verbreite ſich auch nicht dieſem Satze gemaͤß. Es ſey zwar wahr, daß man den Schall uͤberall im Zimmer gleich ſtark hoͤre; aber Niemand glaube doch, daß der ſchallende Koͤrper im Fenſter oder im Loche der Wand befindlich ſey, wie man doch glauben muͤßte, wenn ſich der Schall von da aus verbreitete. Bey verſtopftem Loche hoͤre man den Schall faſt eben ſo gut; alſo dringe er in gerader Linie durch die Waͤnde des Zimmers, welche hier gleichſam die Stelle durchſichtiger Koͤrper vertreten. Koͤnnte man Waͤnde anlegen, die fuͤr den Schall undurchdringlich waͤren, welches er fuͤr unmoͤglich haͤlt, ſo wuͤrde man den Schall blos in der geraden Linie hoͤren, die durch den ſchallenden Koͤrper und das Loch gienge. Dies heißt: einen theoretiſch erwieſenen Satz durch Erfahrungen beſtreiten wollen, deren Anſtellung man ſelbſt fuͤr unmoͤglich haͤlt. Inzwiſchen iſt hier die Erfahrung weder unmoͤglich, noch auf Eulers Seite. Herr Kluͤgel (Prieſtley Geſchichte der Optik, S. 262.) glaubt den Verſuch wirklich angeſtellt zu haben. Der Erfolg dabey war nicht ſo, wie Euler vermuthet; denn es war ziemlich entſchieden, daß der Schall nicht nach der geraden Linie ins Ohr kam.

Man wird mir erlauben, noch folgende Erfahrung hinzuzuſetzen. Wenn man durch ein Blaſerohr redet, ſo hoͤrt Jedermann die Worte ſo, als ob ſie am Ende des Rohrs ausgeſprochen wuͤrden. Hier verbreitet ſich doch der Schall offenbar von der Oefnung aus nach allen Seiten, ob er gleich im Rohre ſelbſt nur nach der geraden Linie fortgehen

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[901/0907] wenn ſie durch ein Loch in einer vorliegenden Wand gehen, ſich hinter demſelben nicht blos in einer einzigen geraden Linie fortpflanzen, ſondern nach allen Seiten zu ausbreiten. Dem zu Folge muͤßte man die Sonne im verfinſterten Zimmer, das eine Oefnung im Laden hat, nicht blos in der geraden Linie, die ſich von der Sonne durch die Oefnung ziehen laͤßt, ſondern an allen Orten ſehen, wie man den Schall, der durchs Fenſter dringt, im Zimmer an allen Orten hoͤrt, welches doch der klaren Erfahrung zuwider iſt. Euler widerlegt Newtons Satz nicht. Er weiß ſich nicht anders zu helfen, als daß er geradehin behauptet, der Schall verbreite ſich auch nicht dieſem Satze gemaͤß. Es ſey zwar wahr, daß man den Schall uͤberall im Zimmer gleich ſtark hoͤre; aber Niemand glaube doch, daß der ſchallende Koͤrper im Fenſter oder im Loche der Wand befindlich ſey, wie man doch glauben muͤßte, wenn ſich der Schall von da aus verbreitete. Bey verſtopftem Loche hoͤre man den Schall faſt eben ſo gut; alſo dringe er in gerader Linie durch die Waͤnde des Zimmers, welche hier gleichſam die Stelle durchſichtiger Koͤrper vertreten. Koͤnnte man Waͤnde anlegen, die fuͤr den Schall undurchdringlich waͤren, welches er fuͤr unmoͤglich haͤlt, ſo wuͤrde man den Schall blos in der geraden Linie hoͤren, die durch den ſchallenden Koͤrper und das Loch gienge. Dies heißt: einen theoretiſch erwieſenen Satz durch Erfahrungen beſtreiten wollen, deren Anſtellung man ſelbſt fuͤr unmoͤglich haͤlt. Inzwiſchen iſt hier die Erfahrung weder unmoͤglich, noch auf Eulers Seite. Herr Kluͤgel (Prieſtley Geſchichte der Optik, S. 262.) glaubt den Verſuch wirklich angeſtellt zu haben. Der Erfolg dabey war nicht ſo, wie Euler vermuthet; denn es war ziemlich entſchieden, daß der Schall nicht nach der geraden Linie ins Ohr kam. Man wird mir erlauben, noch folgende Erfahrung hinzuzuſetzen. Wenn man durch ein Blaſerohr redet, ſo hoͤrt Jedermann die Worte ſo, als ob ſie am Ende des Rohrs ausgeſprochen wuͤrden. Hier verbreitet ſich doch der Schall offenbar von der Oefnung aus nach allen Seiten, ob er gleich im Rohre ſelbſt nur nach der geraden Linie fortgehen

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 2. Leipzig, 1798, S. 901. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch02_1798/907>, abgerufen am 30.04.2024.