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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

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de Iustitia et Iure
gesetze bey dem Volk erreicht werde. Es ist wahr,
man verfaßt sie in der Muttersprache, schlägt sie an
öffentlichen Orten an, verkauft sie gedruckt, rückt sie
in Zeitschriften ein, und lässet sie auch wohl von Zeit
zu Zeit von denen Canzeln verlesen; und doch trift
noch immer ein, worüber schon Cyprian 23) zu seinen
Zeiten klagte: Incisae sint licet Leges, et publico
aere praefixo iura perscripta, inter leges tamen
ipsas delinquitur, inter iura peccatur.
Die Ursa-
chen sind leicht zu errathen. Viele unter dem Volke
können nicht lesen; die Gesetze, wenn sie zumahl nur
geschrieben, nicht gedruckt sind, bleiben ihnen daher,
aller Bekanntmachung ohngeachtet, unbekannt. Wenige
pflegen überdies öffentlich angeschlagene Schriften zu
lesen, und solche Anschläge werden überhaupt bald durch
Muthwillen oder Witterung vernichtet. Die Zeitschrif-
ten gelangen selten zu den niedern Volksclassen und
werden von vielen nur flüchtig durchblättert oder doch
nicht sorgfältig aufbewahrt. Auch scheut der gemeine
Mann den Verkaufspreis gedruckter Gesetze. Die Ver-
lesung derselben in den Kirchen hat eben so wenig voll-
kommen dieienige Wirkung, welche man sich davon ver-
spricht. Das Volk giebt entweder wenig Achtung dar-
auf, oder verläßt unterdessen die, vielleicht ohnehin
diesmahl nicht zahlreiche Versammlung, denn meist
geschiehet die Verlesung erst nach der Predigt; und
insgemein lieset der Prediger die Verordnung unver-
ständlich und mit möglichster Geschwindigkeit vor. End-
lich sind auch wenige mit der iuristischen Schreibart be-
kannt genug, um den Inhalt der Gesetze, besonders
der Strafgesetze, mit allen ihren Abtheilungen, Di-
stinctionen und Ausnahmen gehörig zu fassen. Zwar
solte sich jeder rechtschaffene Unterthan um die Gesetze

des
23) Lib. II. ad Donatum de gratia Dei Ep. 2.
J 2

de Iuſtitia et Iure
geſetze bey dem Volk erreicht werde. Es iſt wahr,
man verfaßt ſie in der Mutterſprache, ſchlaͤgt ſie an
oͤffentlichen Orten an, verkauft ſie gedruckt, ruͤckt ſie
in Zeitſchriften ein, und laͤſſet ſie auch wohl von Zeit
zu Zeit von denen Canzeln verleſen; und doch trift
noch immer ein, woruͤber ſchon Cyprian 23) zu ſeinen
Zeiten klagte: Inciſae ſint licet Leges, et publico
aere praefixo iura perſcripta, inter leges tamen
ipſas delinquitur, inter iura peccatur.
Die Urſa-
chen ſind leicht zu errathen. Viele unter dem Volke
koͤnnen nicht leſen; die Geſetze, wenn ſie zumahl nur
geſchrieben, nicht gedruckt ſind, bleiben ihnen daher,
aller Bekanntmachung ohngeachtet, unbekannt. Wenige
pflegen uͤberdies oͤffentlich angeſchlagene Schriften zu
leſen, und ſolche Anſchlaͤge werden uͤberhaupt bald durch
Muthwillen oder Witterung vernichtet. Die Zeitſchrif-
ten gelangen ſelten zu den niedern Volksclaſſen und
werden von vielen nur fluͤchtig durchblaͤttert oder doch
nicht ſorgfaͤltig aufbewahrt. Auch ſcheut der gemeine
Mann den Verkaufspreis gedruckter Geſetze. Die Ver-
leſung derſelben in den Kirchen hat eben ſo wenig voll-
kommen dieienige Wirkung, welche man ſich davon ver-
ſpricht. Das Volk giebt entweder wenig Achtung dar-
auf, oder verlaͤßt unterdeſſen die, vielleicht ohnehin
diesmahl nicht zahlreiche Verſammlung, denn meiſt
geſchiehet die Verleſung erſt nach der Predigt; und
insgemein lieſet der Prediger die Verordnung unver-
ſtaͤndlich und mit moͤglichſter Geſchwindigkeit vor. End-
lich ſind auch wenige mit der iuriſtiſchen Schreibart be-
kannt genug, um den Inhalt der Geſetze, beſonders
der Strafgeſetze, mit allen ihren Abtheilungen, Di-
ſtinctionen und Ausnahmen gehoͤrig zu faſſen. Zwar
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des
23) Lib. II. ad Donatum de gratia Dei Ep. 2.
J 2
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[131/0151] de Iuſtitia et Iure geſetze bey dem Volk erreicht werde. Es iſt wahr, man verfaßt ſie in der Mutterſprache, ſchlaͤgt ſie an oͤffentlichen Orten an, verkauft ſie gedruckt, ruͤckt ſie in Zeitſchriften ein, und laͤſſet ſie auch wohl von Zeit zu Zeit von denen Canzeln verleſen; und doch trift noch immer ein, woruͤber ſchon Cyprian 23) zu ſeinen Zeiten klagte: Inciſae ſint licet Leges, et publico aere praefixo iura perſcripta, inter leges tamen ipſas delinquitur, inter iura peccatur. Die Urſa- chen ſind leicht zu errathen. Viele unter dem Volke koͤnnen nicht leſen; die Geſetze, wenn ſie zumahl nur geſchrieben, nicht gedruckt ſind, bleiben ihnen daher, aller Bekanntmachung ohngeachtet, unbekannt. Wenige pflegen uͤberdies oͤffentlich angeſchlagene Schriften zu leſen, und ſolche Anſchlaͤge werden uͤberhaupt bald durch Muthwillen oder Witterung vernichtet. Die Zeitſchrif- ten gelangen ſelten zu den niedern Volksclaſſen und werden von vielen nur fluͤchtig durchblaͤttert oder doch nicht ſorgfaͤltig aufbewahrt. Auch ſcheut der gemeine Mann den Verkaufspreis gedruckter Geſetze. Die Ver- leſung derſelben in den Kirchen hat eben ſo wenig voll- kommen dieienige Wirkung, welche man ſich davon ver- ſpricht. Das Volk giebt entweder wenig Achtung dar- auf, oder verlaͤßt unterdeſſen die, vielleicht ohnehin diesmahl nicht zahlreiche Verſammlung, denn meiſt geſchiehet die Verleſung erſt nach der Predigt; und insgemein lieſet der Prediger die Verordnung unver- ſtaͤndlich und mit moͤglichſter Geſchwindigkeit vor. End- lich ſind auch wenige mit der iuriſtiſchen Schreibart be- kannt genug, um den Inhalt der Geſetze, beſonders der Strafgeſetze, mit allen ihren Abtheilungen, Di- ſtinctionen und Ausnahmen gehoͤrig zu faſſen. Zwar ſolte ſich jeder rechtſchaffene Unterthan um die Geſetze des 23) Lib. II. ad Donatum de gratia Dei Ep. 2. J 2

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 131. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/151>, abgerufen am 28.04.2024.