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[Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52.

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Freylich kann die Poesie nicht die Gewalt abtreiben, aber sie kann Macht aufbieten gegen Macht; es ist um keinen gethan im größten Unglück, der seine innere Resonanz sich ungekränkt bewahrt; eine hölzerne, klanglose Natur aber wird ewig als Knecht der Stärke dienen, weil es die Natur selbst so geordnet. Darum ist die Existenz einer so klangreichen, tönenden federkräftigen Poesie in der Mitte der Nation eine so tröstliche Erscheinung, ihre innere Trefflichkeit zeugt für ihre Wahrhaftigkeit, und daß sie Volkspoesie geworden, beweist, daß diese Wahrheit nicht bloß individuell für die Dichter gelte, sondern in der ganzen Masse ein durchgehender Zug sich gefunden habe, der den Dichter und die Nation in eins geschmolzen. Wir können durch sie ergänzen, was in den Begebenheiten mangelhaft geblieben; und wenigstens eine Hoffnung ist uns geblieben. Auch gibt schon das Streben nach besserer Zukunft selbst in dieser Poesie sich zu erkennen dadurch, daß sie aus der Geschichte in den Romanzen so oft das Beste sich angeeignet. Der alte Hildebrant, der Tannhäuser, der Pfalzgraf am Rheine, Prinzenraub, der Graf im Pfluge, Stauffenberg, Oloff, Ladisläs Ermordung, Schlacht am Kremmerdamm, Schloß Orban, Burkhart Münch, Zug nach Morea, Conradin, der Staar, alle bey Gott, die sich lieben, Edelkönigs Kinder, Herzog Hans von Sagan, Graf Friedrich, Lenore, Thedel von Wallmoden, u.s.w., sind Reminiscenzen aus der theils fabelhaften, theils wirklichen Geschichte der Nation, und gleichsam wie kleine zusammengebrochene Abbilder der großen Erscheinung, die sich früher vor uns gestaltete. Hier auch ist der Punct, wo die Volkslieder in die sogenannten Volksbücher übergehen, von denen wir an einem andern Orte gesprochen haben. Man hat die größeren Romanzen, weil das Volk nicht Athem genug für so lange Gedichte hatte, in den Erzählungston übersetzt, und in dieser Form haben sie jene Bücher aufgenommen.

Sollen wir aber das eigentlich Historische in dieser Poesie selbst wieder ins Auge nehmen, dann mag bey der Seltenheit

Freylich kann die Poesie nicht die Gewalt abtreiben, aber sie kann Macht aufbieten gegen Macht; es ist um keinen gethan im groͤßten Ungluͤck, der seine innere Resonanz sich ungekraͤnkt bewahrt; eine hoͤlzerne, klanglose Natur aber wird ewig als Knecht der Staͤrke dienen, weil es die Natur selbst so geordnet. Darum ist die Existenz einer so klangreichen, toͤnenden federkraͤftigen Poesie in der Mitte der Nation eine so troͤstliche Erscheinung, ihre innere Trefflichkeit zeugt fuͤr ihre Wahrhaftigkeit, und daß sie Volkspoesie geworden, beweist, daß diese Wahrheit nicht bloß individuell fuͤr die Dichter gelte, sondern in der ganzen Masse ein durchgehender Zug sich gefunden habe, der den Dichter und die Nation in eins geschmolzen. Wir koͤnnen durch sie ergaͤnzen, was in den Begebenheiten mangelhaft geblieben; und wenigstens eine Hoffnung ist uns geblieben. Auch gibt schon das Streben nach besserer Zukunft selbst in dieser Poesie sich zu erkennen dadurch, daß sie aus der Geschichte in den Romanzen so oft das Beste sich angeeignet. Der alte Hildebrant, der Tannhaͤuser, der Pfalzgraf am Rheine, Prinzenraub, der Graf im Pfluge, Stauffenberg, Oloff, Ladislaͤs Ermordung, Schlacht am Kremmerdamm, Schloß Orban, Burkhart Muͤnch, Zug nach Morea, Conradin, der Staar, alle bey Gott, die sich lieben, Edelkoͤnigs Kinder, Herzog Hans von Sagan, Graf Friedrich, Lenore, Thedel von Wallmoden, u.s.w., sind Reminiscenzen aus der theils fabelhaften, theils wirklichen Geschichte der Nation, und gleichsam wie kleine zusammengebrochene Abbilder der großen Erscheinung, die sich fruͤher vor uns gestaltete. Hier auch ist der Punct, wo die Volkslieder in die sogenannten Volksbuͤcher uͤbergehen, von denen wir an einem andern Orte gesprochen haben. Man hat die groͤßeren Romanzen, weil das Volk nicht Athem genug fuͤr so lange Gedichte hatte, in den Erzaͤhlungston uͤbersetzt, und in dieser Form haben sie jene Buͤcher aufgenommen.

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[44/0032] Freylich kann die Poesie nicht die Gewalt abtreiben, aber sie kann Macht aufbieten gegen Macht; es ist um keinen gethan im groͤßten Ungluͤck, der seine innere Resonanz sich ungekraͤnkt bewahrt; eine hoͤlzerne, klanglose Natur aber wird ewig als Knecht der Staͤrke dienen, weil es die Natur selbst so geordnet. Darum ist die Existenz einer so klangreichen, toͤnenden federkraͤftigen Poesie in der Mitte der Nation eine so troͤstliche Erscheinung, ihre innere Trefflichkeit zeugt fuͤr ihre Wahrhaftigkeit, und daß sie Volkspoesie geworden, beweist, daß diese Wahrheit nicht bloß individuell fuͤr die Dichter gelte, sondern in der ganzen Masse ein durchgehender Zug sich gefunden habe, der den Dichter und die Nation in eins geschmolzen. Wir koͤnnen durch sie ergaͤnzen, was in den Begebenheiten mangelhaft geblieben; und wenigstens eine Hoffnung ist uns geblieben. Auch gibt schon das Streben nach besserer Zukunft selbst in dieser Poesie sich zu erkennen dadurch, daß sie aus der Geschichte in den Romanzen so oft das Beste sich angeeignet. Der alte Hildebrant, der Tannhaͤuser, der Pfalzgraf am Rheine, Prinzenraub, der Graf im Pfluge, Stauffenberg, Oloff, Ladislaͤs Ermordung, Schlacht am Kremmerdamm, Schloß Orban, Burkhart Muͤnch, Zug nach Morea, Conradin, der Staar, alle bey Gott, die sich lieben, Edelkoͤnigs Kinder, Herzog Hans von Sagan, Graf Friedrich, Lenore, Thedel von Wallmoden, u.s.w., sind Reminiscenzen aus der theils fabelhaften, theils wirklichen Geschichte der Nation, und gleichsam wie kleine zusammengebrochene Abbilder der großen Erscheinung, die sich fruͤher vor uns gestaltete. Hier auch ist der Punct, wo die Volkslieder in die sogenannten Volksbuͤcher uͤbergehen, von denen wir an einem andern Orte gesprochen haben. Man hat die groͤßeren Romanzen, weil das Volk nicht Athem genug fuͤr so lange Gedichte hatte, in den Erzaͤhlungston uͤbersetzt, und in dieser Form haben sie jene Buͤcher aufgenommen. Sollen wir aber das eigentlich Historische in dieser Poesie selbst wieder ins Auge nehmen, dann mag bey der Seltenheit

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Zitationshilfe: [Görres, Joseph:] [Rezension zu:] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. v. Arnim u. C. Brentano. In: Heidelbergische Jahrbücher der Literatur, Fünfte Abtheilung. Philologie, Historie, schöne Literatur und Kunst, Jg. 2 (1809), Bd. 1, Heft 5, S. 222‒237 und Jg. 3 (1810), Bd. 2, Heft 9, S. 30‒52, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_wunderhorn_1809/32>, abgerufen am 26.04.2024.