Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

In der Wissenschaft kann also nicht verlangt wer-
den, daß derjenige, der etwas für sie zu leisten gedenkt,
ihr das ganze Leben widme, sie ganz überschaue und
umgehe; welches überhaupt auch für den Eingeweihten
eine hohe Forderung ist. Durchsucht man jedoch die
Geschichte der Wissenschaften überhaupt, besonders aber
die Geschichte der Naturwissenschaft; so findet man,
daß manches Vorzüglichere von Einzelnen in einzelnen
Fächern, sehr oft von Laien geleistet worden.

Wohin irgend die Neigung, Zufall oder Gelegen-
heit den Menschen führt, welche Phänomene besonders
ihm auffallen, ihm einen Antheil abgewinnen, ihn fest-
halten, ihn beschäftigen, immer wird es zum Vortheil
der Wissenschaft seyn. Denn jedes neue Verhältniß,
das an den Tag kommt, jede neue Behandlungsart,
selbst das Unzulängliche, selbst der Irrthum ist brauch-
bar, oder aufregend und für die Folge nicht verloren.

In diesem Sinne mag der Verfasser denn auch
mit einiger Beruhigung auf seine Arbeit zurücksehen;
in dieser Betrachtung kann er wohl einigen Muth
schöpfen zu dem, was zu thun noch übrig bleibt, und,
zwar nicht mit sich selbst zufrieden, doch in sich selbst
getrost, das Geleistete und Zu-leistende einer theilneh-
menden Welt und Nachwelt empfehlen.

Multi pertransibunt et augebitur scientia.


In der Wiſſenſchaft kann alſo nicht verlangt wer-
den, daß derjenige, der etwas fuͤr ſie zu leiſten gedenkt,
ihr das ganze Leben widme, ſie ganz uͤberſchaue und
umgehe; welches uͤberhaupt auch fuͤr den Eingeweihten
eine hohe Forderung iſt. Durchſucht man jedoch die
Geſchichte der Wiſſenſchaften uͤberhaupt, beſonders aber
die Geſchichte der Naturwiſſenſchaft; ſo findet man,
daß manches Vorzuͤglichere von Einzelnen in einzelnen
Faͤchern, ſehr oft von Laien geleiſtet worden.

Wohin irgend die Neigung, Zufall oder Gelegen-
heit den Menſchen fuͤhrt, welche Phaͤnomene beſonders
ihm auffallen, ihm einen Antheil abgewinnen, ihn feſt-
halten, ihn beſchaͤftigen, immer wird es zum Vortheil
der Wiſſenſchaft ſeyn. Denn jedes neue Verhaͤltniß,
das an den Tag kommt, jede neue Behandlungsart,
ſelbſt das Unzulaͤngliche, ſelbſt der Irrthum iſt brauch-
bar, oder aufregend und fuͤr die Folge nicht verloren.

In dieſem Sinne mag der Verfaſſer denn auch
mit einiger Beruhigung auf ſeine Arbeit zuruͤckſehen;
in dieſer Betrachtung kann er wohl einigen Muth
ſchoͤpfen zu dem, was zu thun noch uͤbrig bleibt, und,
zwar nicht mit ſich ſelbſt zufrieden, doch in ſich ſelbſt
getroſt, das Geleiſtete und Zu-leiſtende einer theilneh-
menden Welt und Nachwelt empfehlen.

Multi pertransibunt et augebitur scientia.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0406" n="352"/>
          <p>In der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft kann al&#x017F;o nicht verlangt wer-<lb/>
den, daß derjenige, der etwas fu&#x0364;r &#x017F;ie zu lei&#x017F;ten gedenkt,<lb/>
ihr das ganze Leben widme, &#x017F;ie ganz u&#x0364;ber&#x017F;chaue und<lb/>
umgehe; welches u&#x0364;berhaupt auch fu&#x0364;r den Eingeweihten<lb/>
eine hohe Forderung i&#x017F;t. Durch&#x017F;ucht man jedoch die<lb/>
Ge&#x017F;chichte der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften u&#x0364;berhaupt, be&#x017F;onders aber<lb/>
die Ge&#x017F;chichte der Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft; &#x017F;o findet man,<lb/>
daß manches Vorzu&#x0364;glichere von Einzelnen in einzelnen<lb/>
Fa&#x0364;chern, &#x017F;ehr oft von Laien gelei&#x017F;tet worden.</p><lb/>
          <p>Wohin irgend die Neigung, Zufall oder Gelegen-<lb/>
heit den Men&#x017F;chen fu&#x0364;hrt, welche Pha&#x0364;nomene be&#x017F;onders<lb/>
ihm auffallen, ihm einen Antheil abgewinnen, ihn fe&#x017F;t-<lb/>
halten, ihn be&#x017F;cha&#x0364;ftigen, immer wird es zum Vortheil<lb/>
der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;eyn. Denn jedes neue Verha&#x0364;ltniß,<lb/>
das an den Tag kommt, jede neue Behandlungsart,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t das Unzula&#x0364;ngliche, &#x017F;elb&#x017F;t der Irrthum i&#x017F;t brauch-<lb/>
bar, oder aufregend und fu&#x0364;r die Folge nicht verloren.</p><lb/>
          <p>In die&#x017F;em Sinne mag der Verfa&#x017F;&#x017F;er denn auch<lb/>
mit einiger Beruhigung auf &#x017F;eine Arbeit zuru&#x0364;ck&#x017F;ehen;<lb/>
in die&#x017F;er Betrachtung kann er wohl einigen Muth<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;pfen zu dem, was zu thun noch u&#x0364;brig bleibt, und,<lb/>
zwar nicht mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zufrieden, doch in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
getro&#x017F;t, das Gelei&#x017F;tete und Zu-lei&#x017F;tende einer theilneh-<lb/>
menden Welt und Nachwelt empfehlen.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#c"> <hi rendition="#aq">Multi pertransibunt et augebitur scientia.</hi> </hi> </p>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0406] In der Wiſſenſchaft kann alſo nicht verlangt wer- den, daß derjenige, der etwas fuͤr ſie zu leiſten gedenkt, ihr das ganze Leben widme, ſie ganz uͤberſchaue und umgehe; welches uͤberhaupt auch fuͤr den Eingeweihten eine hohe Forderung iſt. Durchſucht man jedoch die Geſchichte der Wiſſenſchaften uͤberhaupt, beſonders aber die Geſchichte der Naturwiſſenſchaft; ſo findet man, daß manches Vorzuͤglichere von Einzelnen in einzelnen Faͤchern, ſehr oft von Laien geleiſtet worden. Wohin irgend die Neigung, Zufall oder Gelegen- heit den Menſchen fuͤhrt, welche Phaͤnomene beſonders ihm auffallen, ihm einen Antheil abgewinnen, ihn feſt- halten, ihn beſchaͤftigen, immer wird es zum Vortheil der Wiſſenſchaft ſeyn. Denn jedes neue Verhaͤltniß, das an den Tag kommt, jede neue Behandlungsart, ſelbſt das Unzulaͤngliche, ſelbſt der Irrthum iſt brauch- bar, oder aufregend und fuͤr die Folge nicht verloren. In dieſem Sinne mag der Verfaſſer denn auch mit einiger Beruhigung auf ſeine Arbeit zuruͤckſehen; in dieſer Betrachtung kann er wohl einigen Muth ſchoͤpfen zu dem, was zu thun noch uͤbrig bleibt, und, zwar nicht mit ſich ſelbſt zufrieden, doch in ſich ſelbſt getroſt, das Geleiſtete und Zu-leiſtende einer theilneh- menden Welt und Nachwelt empfehlen. Multi pertransibunt et augebitur scientia.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/406
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/406>, abgerufen am 29.04.2024.