Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

Bild:
<< vorherige Seite

Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬
des, ordnendes und leitendes Wesen sich gleich¬
sam hinter der Natur verberge, um sich uns
faßlich zu machen, eine solche Ueberzeugung
dringt sich einem Jeden auf; ja wenn er auch
den Faden derselben, der ihn durchs Leben führt,
manchmal fahren ließe, so wird er ihn doch
gleich und überall wieder aufnehmen können.
Ganz anders verhält sich's mit der besondern Re¬
ligion, die uns verkündigt, daß jenes große We¬
sen sich eines Einzelnen, eines Stammes, eines
Volkes, einer Landschaft entschieden und vor¬
züglich annehme. Diese Religion ist auf den
Glauben gegründet, der unerschütterlich seyn
muß, wenn er nicht sogleich von Grund aus
zerstört werden soll. Jeder Zweifel gegen eine
solche Religion ist ihr tödlich. Zur Ueberzeu¬
gung kann man zurückkehren, aber nicht zum
Glauben. Daher die unendlichen Prüfungen,
das Zaudern der Erfüllung so wiederholter
Verheißungen, wodurch die Glaubensfähigkeit
jener Ahnherren ins hellste Licht gesetzt wird.

21 *

Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬
des, ordnendes und leitendes Weſen ſich gleich¬
ſam hinter der Natur verberge, um ſich uns
faßlich zu machen, eine ſolche Ueberzeugung
dringt ſich einem Jeden auf; ja wenn er auch
den Faden derſelben, der ihn durchs Leben fuͤhrt,
manchmal fahren ließe, ſo wird er ihn doch
gleich und uͤberall wieder aufnehmen koͤnnen.
Ganz anders verhaͤlt ſich's mit der beſondern Re¬
ligion, die uns verkuͤndigt, daß jenes große We¬
ſen ſich eines Einzelnen, eines Stammes, eines
Volkes, einer Landſchaft entſchieden und vor¬
zuͤglich annehme. Dieſe Religion iſt auf den
Glauben gegruͤndet, der unerſchuͤtterlich ſeyn
muß, wenn er nicht ſogleich von Grund aus
zerſtoͤrt werden ſoll. Jeder Zweifel gegen eine
ſolche Religion iſt ihr toͤdlich. Zur Ueberzeu¬
gung kann man zuruͤckkehren, aber nicht zum
Glauben. Daher die unendlichen Pruͤfungen,
das Zaudern der Erfuͤllung ſo wiederholter
Verheißungen, wodurch die Glaubensfaͤhigkeit
jener Ahnherren ins hellſte Licht geſetzt wird.

21 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0339" n="323"/>
Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬<lb/>
des, ordnendes und leitendes We&#x017F;en &#x017F;ich gleich¬<lb/>
&#x017F;am hinter der Natur verberge, um &#x017F;ich uns<lb/>
faßlich zu machen, eine &#x017F;olche Ueberzeugung<lb/>
dringt &#x017F;ich einem Jeden auf; ja wenn er auch<lb/>
den Faden der&#x017F;elben, der ihn durchs Leben fu&#x0364;hrt,<lb/>
manchmal fahren ließe, &#x017F;o wird er ihn doch<lb/>
gleich und u&#x0364;berall wieder aufnehmen ko&#x0364;nnen.<lb/>
Ganz anders verha&#x0364;lt &#x017F;ich's mit der be&#x017F;ondern Re¬<lb/>
ligion, die uns verku&#x0364;ndigt, daß jenes große We¬<lb/>
&#x017F;en &#x017F;ich eines Einzelnen, eines Stammes, eines<lb/>
Volkes, einer Land&#x017F;chaft ent&#x017F;chieden und vor¬<lb/>
zu&#x0364;glich annehme. Die&#x017F;e Religion i&#x017F;t auf den<lb/>
Glauben gegru&#x0364;ndet, der uner&#x017F;chu&#x0364;tterlich &#x017F;eyn<lb/>
muß, wenn er nicht &#x017F;ogleich von Grund aus<lb/>
zer&#x017F;to&#x0364;rt werden &#x017F;oll. Jeder Zweifel gegen eine<lb/>
&#x017F;olche Religion i&#x017F;t ihr to&#x0364;dlich. Zur Ueberzeu¬<lb/>
gung kann man zuru&#x0364;ckkehren, aber nicht zum<lb/>
Glauben. Daher die unendlichen Pru&#x0364;fungen,<lb/>
das Zaudern der Erfu&#x0364;llung &#x017F;o wiederholter<lb/>
Verheißungen, wodurch die Glaubensfa&#x0364;higkeit<lb/>
jener Ahnherren ins hell&#x017F;te Licht ge&#x017F;etzt wird.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">21 *<lb/></fw>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[323/0339] Ueberzeugung, daß ein großes, hervorbringen¬ des, ordnendes und leitendes Weſen ſich gleich¬ ſam hinter der Natur verberge, um ſich uns faßlich zu machen, eine ſolche Ueberzeugung dringt ſich einem Jeden auf; ja wenn er auch den Faden derſelben, der ihn durchs Leben fuͤhrt, manchmal fahren ließe, ſo wird er ihn doch gleich und uͤberall wieder aufnehmen koͤnnen. Ganz anders verhaͤlt ſich's mit der beſondern Re¬ ligion, die uns verkuͤndigt, daß jenes große We¬ ſen ſich eines Einzelnen, eines Stammes, eines Volkes, einer Landſchaft entſchieden und vor¬ zuͤglich annehme. Dieſe Religion iſt auf den Glauben gegruͤndet, der unerſchuͤtterlich ſeyn muß, wenn er nicht ſogleich von Grund aus zerſtoͤrt werden ſoll. Jeder Zweifel gegen eine ſolche Religion iſt ihr toͤdlich. Zur Ueberzeu¬ gung kann man zuruͤckkehren, aber nicht zum Glauben. Daher die unendlichen Pruͤfungen, das Zaudern der Erfuͤllung ſo wiederholter Verheißungen, wodurch die Glaubensfaͤhigkeit jener Ahnherren ins hellſte Licht geſetzt wird. 21 *

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/339
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/339>, abgerufen am 10.06.2024.