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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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schreiben, das vorher manchmal nur im
Scherze geschehen war. Ich fühlte, ich merkte
was es bedeuten sollte. Was er in seiner
Muttersprache zu sagen erröthete, konnte er
nun mit gutem Gewissen hinschreiben. Zu
Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es
eine treffliche Sprache; sie ist eine perfide
Sprache! ich finde, Gott sey Dank! kein
deutsches Wort, um perfid in seinem ganzen
Umfange auszudrücken. Unser armseliges
treulos ist ein unschuldiges Kind dagegen.
Perfid ist treulos mit Genuß, mit Übermuth
und Schadenfreude. O, die Ausbildung ei¬
ner Nation ist zu beneiden, die so feine
Schattirungen in Einem Worte auszudrü¬
cken weiß! Französisch ist recht die Sprache
der Welt, werth die allgemeine Sprache zu
seyn, damit sie sich nur recht alle unter ein¬
ander betrügen und belügen können! Seine
französischen Briefe ließen sich noch immer

ſchreiben, das vorher manchmal nur im
Scherze geſchehen war. Ich fühlte, ich merkte
was es bedeuten ſollte. Was er in ſeiner
Mutterſprache zu ſagen erröthete, konnte er
nun mit gutem Gewiſſen hinſchreiben. Zu
Reſervationen, Halbheiten und Lügen iſt es
eine treffliche Sprache; ſie iſt eine perfide
Sprache! ich finde, Gott ſey Dank! kein
deutſches Wort, um perfid in ſeinem ganzen
Umfange auszudrücken. Unſer armſeliges
treulos iſt ein unſchuldiges Kind dagegen.
Perfid iſt treulos mit Genuß, mit Übermuth
und Schadenfreude. O, die Ausbildung ei¬
ner Nation iſt zu beneiden, die ſo feine
Schattirungen in Einem Worte auszudrü¬
cken weiß! Franzöſiſch iſt recht die Sprache
der Welt, werth die allgemeine Sprache zu
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ander betrügen und belügen können! Seine
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[166/0172] ſchreiben, das vorher manchmal nur im Scherze geſchehen war. Ich fühlte, ich merkte was es bedeuten ſollte. Was er in ſeiner Mutterſprache zu ſagen erröthete, konnte er nun mit gutem Gewiſſen hinſchreiben. Zu Reſervationen, Halbheiten und Lügen iſt es eine treffliche Sprache; ſie iſt eine perfide Sprache! ich finde, Gott ſey Dank! kein deutſches Wort, um perfid in ſeinem ganzen Umfange auszudrücken. Unſer armſeliges treulos iſt ein unſchuldiges Kind dagegen. Perfid iſt treulos mit Genuß, mit Übermuth und Schadenfreude. O, die Ausbildung ei¬ ner Nation iſt zu beneiden, die ſo feine Schattirungen in Einem Worte auszudrü¬ cken weiß! Franzöſiſch iſt recht die Sprache der Welt, werth die allgemeine Sprache zu ſeyn, damit ſie ſich nur recht alle unter ein¬ ander betrügen und belügen können! Seine franzöſiſchen Briefe ließen ſich noch immer

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/172>, abgerufen am 29.04.2024.