Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite

und wußte auch, wo ich es noch war; aber
die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne
alle Angst. Nicht einen Augenblick ist mir
eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja
die Idee eines bösen Geistes und eines Straf-
und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬
nesweges in dem Kreise meiner Ideen Platz
finden. Ich fand die Menschen, die ohne
Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und
der Liebe gegen den Unsichtbaren zugeschlossen
war, schon so unglücklich, daß eine Hölle und
äußere Strafen mir eher für sie eine Linde¬
rung zu versprechen, als eine Schärfung der
Strafe zu drohen schienen. Ich durfte nur
Menschen auf dieser Welt ansehen, die ge¬
hässigen Gefühlen in ihrem Busen Raum
geben, die sich gegen das Gute von irgend
einer Art verstocken und sich und andern das
Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey
Tage die Augen zuschließen, um nur behaup¬

und wußte auch, wo ich es noch war; aber
die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne
alle Angſt. Nicht einen Augenblick iſt mir
eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja
die Idee eines böſen Geiſtes und eines Straf-
und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬
nesweges in dem Kreiſe meiner Ideen Platz
finden. Ich fand die Menſchen, die ohne
Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und
der Liebe gegen den Unſichtbaren zugeſchloſſen
war, ſchon ſo unglücklich, daß eine Hölle und
äußere Strafen mir eher für ſie eine Linde¬
rung zu verſprechen, als eine Schärfung der
Strafe zu drohen ſchienen. Ich durfte nur
Menſchen auf dieſer Welt anſehen, die ge¬
häſſigen Gefühlen in ihrem Buſen Raum
geben, die ſich gegen das Gute von irgend
einer Art verſtocken und ſich und andern das
Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey
Tage die Augen zuſchließen, um nur behaup¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0293" n="287"/>
und wußte auch, wo ich es noch war; aber<lb/>
die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne<lb/>
alle Ang&#x017F;t. Nicht einen Augenblick i&#x017F;t mir<lb/>
eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja<lb/>
die Idee eines bö&#x017F;en Gei&#x017F;tes und eines Straf-<lb/>
und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬<lb/>
nesweges in dem Krei&#x017F;e meiner Ideen Platz<lb/>
finden. Ich fand die Men&#x017F;chen, die ohne<lb/>
Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und<lb/>
der Liebe gegen den Un&#x017F;ichtbaren zuge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
war, &#x017F;chon &#x017F;o unglücklich, daß eine Hölle und<lb/>
äußere Strafen mir eher für &#x017F;ie eine Linde¬<lb/>
rung zu ver&#x017F;prechen, als eine Schärfung der<lb/>
Strafe zu drohen &#x017F;chienen. Ich durfte nur<lb/>
Men&#x017F;chen auf die&#x017F;er Welt an&#x017F;ehen, die ge¬<lb/>&#x017F;&#x017F;igen Gefühlen in ihrem Bu&#x017F;en Raum<lb/>
geben, die &#x017F;ich gegen das Gute von irgend<lb/>
einer Art ver&#x017F;tocken und &#x017F;ich und andern das<lb/>
Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey<lb/>
Tage die Augen zu&#x017F;chließen, um nur behaup¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0293] und wußte auch, wo ich es noch war; aber die Erkenntniß meiner Gebrechen war ohne alle Angſt. Nicht einen Augenblick iſt mir eine Furcht vor der Hölle angekommen, ja die Idee eines böſen Geiſtes und eines Straf- und Quälortes nach dem Tode konnte kei¬ nesweges in dem Kreiſe meiner Ideen Platz finden. Ich fand die Menſchen, die ohne Gott lebten, deren Herz dem Vertrauen und der Liebe gegen den Unſichtbaren zugeſchloſſen war, ſchon ſo unglücklich, daß eine Hölle und äußere Strafen mir eher für ſie eine Linde¬ rung zu verſprechen, als eine Schärfung der Strafe zu drohen ſchienen. Ich durfte nur Menſchen auf dieſer Welt anſehen, die ge¬ häſſigen Gefühlen in ihrem Buſen Raum geben, die ſich gegen das Gute von irgend einer Art verſtocken und ſich und andern das Schlechte aufdringen wollen, die lieber bey Tage die Augen zuſchließen, um nur behaup¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/293
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/293>, abgerufen am 03.05.2024.