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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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ten zu können, die Sonne gebe keinen Schein
von sich; wie über allen Ausdruck schienen
mir diese Menschen elend! Wer hätte eine
Hölle schaffen können, um ihren Zustand zu
verschlimmern.

Diese Gemüthsbeschaffenheit blieb mir ei¬
nen Tag wie den andern zehn Jahre lang.
Sie erhielt sich durch viele Proben, auch am
schmerzhaften Sterbebette meiner geliebten
Mutter. Ich war offen genug, um bey die¬
ser Gelegenheit meine heitere Gemüthsver¬
fassung frommen aber ganz schulgerechten
Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte
darüber manchen freundschaftlichen Verweis
erdulden. Man meynte mir eben zur rech¬
ten Zeit vorzustellen, welchen Ernst man an¬
zuwenden hätte, um in gesunden Tagen ei¬
nen guten Grund zu legen.

An Ernst wollte ich es auch nicht fehlen
lassen. Ich ließ mich für den Augenblick

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ten zu können, die Sonne gebe keinen Schein
von ſich; wie über allen Ausdruck ſchienen
mir dieſe Menſchen elend! Wer hätte eine
Hölle ſchaffen können, um ihren Zuſtand zu
verſchlimmern.

Dieſe Gemüthsbeſchaffenheit blieb mir ei¬
nen Tag wie den andern zehn Jahre lang.
Sie erhielt ſich durch viele Proben, auch am
ſchmerzhaften Sterbebette meiner geliebten
Mutter. Ich war offen genug, um bey die¬
ſer Gelegenheit meine heitere Gemüthsver¬
faſſung frommen aber ganz ſchulgerechten
Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte
darüber manchen freundſchaftlichen Verweis
erdulden. Man meynte mir eben zur rech¬
ten Zeit vorzuſtellen, welchen Ernſt man an¬
zuwenden hätte, um in geſunden Tagen ei¬
nen guten Grund zu legen.

An Ernſt wollte ich es auch nicht fehlen
laſſen. Ich ließ mich für den Augenblick

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[288/0294] ten zu können, die Sonne gebe keinen Schein von ſich; wie über allen Ausdruck ſchienen mir dieſe Menſchen elend! Wer hätte eine Hölle ſchaffen können, um ihren Zuſtand zu verſchlimmern. Dieſe Gemüthsbeſchaffenheit blieb mir ei¬ nen Tag wie den andern zehn Jahre lang. Sie erhielt ſich durch viele Proben, auch am ſchmerzhaften Sterbebette meiner geliebten Mutter. Ich war offen genug, um bey die¬ ſer Gelegenheit meine heitere Gemüthsver¬ faſſung frommen aber ganz ſchulgerechten Leuten nicht zu verbergen, und ich mußte darüber manchen freundſchaftlichen Verweis erdulden. Man meynte mir eben zur rech¬ ten Zeit vorzuſtellen, welchen Ernſt man an¬ zuwenden hätte, um in geſunden Tagen ei¬ nen guten Grund zu legen. An Ernſt wollte ich es auch nicht fehlen laſſen. Ich ließ mich für den Augenblick über¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/294>, abgerufen am 03.05.2024.