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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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Wir hofften aufs neue, mit meiner Schwe¬
ster, auf einen Knaben, dem mein Schwager
so sehnlich entgegen sah, und dessen Geburt
er leider nicht erlebte. Der wackere Mann
starb an den Folgen eines unglücklichen
Sturzes vom Pferde, und meine Schwester
folgte ihm, nachdem sie der Welt einen schö¬
nen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hin¬
terlassenen Kinder konnte ich nur mit Weh¬
muth ansehn. So manche gesunde Person
war vor mir, der Kranken, hingegangen, soll¬
te ich nicht vielleicht von diesen hoffnungs¬
vollen Blüthen manche abfallen sehen? Ich
kannte die Welt genug, um zu wissen, un¬
ter wie vielen Gefahren ein Kind, besonders
in dem höheren Stande, herauf wächst, und
es schien mir, als wenn sie seit der Zeit mei¬
ner Jugend sich für die gegenwärtige Welt
noch vermehrt hätten. Ich fühlte daß ich,
bey meiner Schwäche, wenig oder nichts für

Wir hofften aufs neue, mit meiner Schwe¬
ſter, auf einen Knaben, dem mein Schwager
ſo ſehnlich entgegen ſah, und deſſen Geburt
er leider nicht erlebte. Der wackere Mann
ſtarb an den Folgen eines unglücklichen
Sturzes vom Pferde, und meine Schweſter
folgte ihm, nachdem ſie der Welt einen ſchö¬
nen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hin¬
terlaſſenen Kinder konnte ich nur mit Weh¬
muth anſehn. So manche geſunde Perſon
war vor mir, der Kranken, hingegangen, ſoll¬
te ich nicht vielleicht von dieſen hoffnungs¬
vollen Blüthen manche abfallen ſehen? Ich
kannte die Welt genug, um zu wiſſen, un¬
ter wie vielen Gefahren ein Kind, beſonders
in dem höheren Stande, herauf wächſt, und
es ſchien mir, als wenn ſie ſeit der Zeit mei¬
ner Jugend ſich für die gegenwärtige Welt
noch vermehrt hätten. Ich fühlte daß ich,
bey meiner Schwäche, wenig oder nichts für

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[360/0366] Wir hofften aufs neue, mit meiner Schwe¬ ſter, auf einen Knaben, dem mein Schwager ſo ſehnlich entgegen ſah, und deſſen Geburt er leider nicht erlebte. Der wackere Mann ſtarb an den Folgen eines unglücklichen Sturzes vom Pferde, und meine Schweſter folgte ihm, nachdem ſie der Welt einen ſchö¬ nen Knaben gegeben hatte. Ihre vier hin¬ terlaſſenen Kinder konnte ich nur mit Weh¬ muth anſehn. So manche geſunde Perſon war vor mir, der Kranken, hingegangen, ſoll¬ te ich nicht vielleicht von dieſen hoffnungs¬ vollen Blüthen manche abfallen ſehen? Ich kannte die Welt genug, um zu wiſſen, un¬ ter wie vielen Gefahren ein Kind, beſonders in dem höheren Stande, herauf wächſt, und es ſchien mir, als wenn ſie ſeit der Zeit mei¬ ner Jugend ſich für die gegenwärtige Welt noch vermehrt hätten. Ich fühlte daß ich, bey meiner Schwäche, wenig oder nichts für

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/366>, abgerufen am 26.04.2024.