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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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sterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines
Lebens wieder schaffen könnte; aber ach das ward
nur wenig Edlen gegeben, ihr Blut für die Jhri-
gen zu vergiessen, und durch ihren Tod ein neues
hundertfältiges Leben ihren Freunden anzufachen.

Jn diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben
seyn. Du hast sie berührt, geheiligt. Jch habe
auch darum deinen Vater gebeten. Meine See-
le schwebt über dem Sarge. Man soll meine
Taschen nicht aussuchen. Diese blaßrothe Schlei-
fe, die du am Busen hattest, als ich dich zum er-
stenmale unter deinen Kindern fand. O küsse sie
tausendmal und erzähl ihnen das Schiksal ihres
unglüklichen Freunds. Die Lieben, sie wimmeln
um mich. Ach wie ich mich an dich schloß! Seit
dem ersten Augenblikke dich nicht lassen konnte!
Diese Schleife soll mit mir begraben werden. An
meinem Geburtstage schenktest du mir sie! Wie
ich das all verschlang -- Ach ich dachte nicht, daß
mich der Weg hierher führen sollte! -- -- Sey
ruhig! ich bitte dich, sey ruhig! --

Sie sind geladen -- es schlägt zwölfe! -- So
sey's denn -- Lotte! Lotte leb wohl! Leb wohl!

Ein



ſterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines
Lebens wieder ſchaffen koͤnnte; aber ach das ward
nur wenig Edlen gegeben, ihr Blut fuͤr die Jhri-
gen zu vergieſſen, und durch ihren Tod ein neues
hundertfaͤltiges Leben ihren Freunden anzufachen.

Jn dieſen Kleidern, Lotte, will ich begraben
ſeyn. Du haſt ſie beruͤhrt, geheiligt. Jch habe
auch darum deinen Vater gebeten. Meine See-
le ſchwebt uͤber dem Sarge. Man ſoll meine
Taſchen nicht ausſuchen. Dieſe blaßrothe Schlei-
fe, die du am Buſen hatteſt, als ich dich zum er-
ſtenmale unter deinen Kindern fand. O kuͤſſe ſie
tauſendmal und erzaͤhl ihnen das Schikſal ihres
ungluͤklichen Freunds. Die Lieben, ſie wimmeln
um mich. Ach wie ich mich an dich ſchloß! Seit
dem erſten Augenblikke dich nicht laſſen konnte!
Dieſe Schleife ſoll mit mir begraben werden. An
meinem Geburtstage ſchenkteſt du mir ſie! Wie
ich das all verſchlang — Ach ich dachte nicht, daß
mich der Weg hierher fuͤhren ſollte! — — Sey
ruhig! ich bitte dich, ſey ruhig! —

Sie ſind geladen — es ſchlaͤgt zwoͤlfe! — So
ſey’s denn — Lotte! Lotte leb wohl! Leb wohl!

Ein
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[221/0109] ſterben, wenn ich dir die Ruhe, die Wonne deines Lebens wieder ſchaffen koͤnnte; aber ach das ward nur wenig Edlen gegeben, ihr Blut fuͤr die Jhri- gen zu vergieſſen, und durch ihren Tod ein neues hundertfaͤltiges Leben ihren Freunden anzufachen. Jn dieſen Kleidern, Lotte, will ich begraben ſeyn. Du haſt ſie beruͤhrt, geheiligt. Jch habe auch darum deinen Vater gebeten. Meine See- le ſchwebt uͤber dem Sarge. Man ſoll meine Taſchen nicht ausſuchen. Dieſe blaßrothe Schlei- fe, die du am Buſen hatteſt, als ich dich zum er- ſtenmale unter deinen Kindern fand. O kuͤſſe ſie tauſendmal und erzaͤhl ihnen das Schikſal ihres ungluͤklichen Freunds. Die Lieben, ſie wimmeln um mich. Ach wie ich mich an dich ſchloß! Seit dem erſten Augenblikke dich nicht laſſen konnte! Dieſe Schleife ſoll mit mir begraben werden. An meinem Geburtstage ſchenkteſt du mir ſie! Wie ich das all verſchlang — Ach ich dachte nicht, daß mich der Weg hierher fuͤhren ſollte! — — Sey ruhig! ich bitte dich, ſey ruhig! — Sie ſind geladen — es ſchlaͤgt zwoͤlfe! — So ſey’s denn — Lotte! Lotte leb wohl! Leb wohl! Ein

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 221. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/109>, abgerufen am 01.05.2024.