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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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gescharrt der kalten Erde, so eng, so finster! --
Jch hatte eine Freundin, die mein Alles war mei-
ner hülflosen Jugend, sie starb und ich folgte ih-
rer Leiche, und stand an dem Grabe. Wie sie
den Sarg hinunter ließen und die Seile schnurrend
unter ihm weg und wieder herauf schnellten, dann
die erste Schaufel hinunter schollerte und die ängst-
liche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dump-
fer und immer dumpfer und endlich bedecktwar! --
Jch stürzte neben das Grab hin -- Ergriffen erschüt-
tert geängstet zerrissen mein innerstes, aber ich wuste
nicht wie mir geschah, -- wie mir geschehen wird --
Sterben! Grab! Jch verstehe die Worte nicht!

O vergieb mir! vergieb mir! Gestern! Es hät-
te der lezte Augenblik meines Lebens seyn sollen.
O du Engel! zum erstenmale, zum erstenmale ganz
ohne Zweifel durch mein innig innerstes durchglühte
mich das Wonnegefühl: Sie liebt mich! Sie liebt
mich. Es brennt noch auf meinen Lippen das
heilige Feuer das von den deinigen ströhmte, neue
warme Wonne ist in meinem Herzen. Vergieb
mir, vergieb mir.

Ach ich wuste, daß du mich liebtest, wuste es
an den ersten seelenvollen Blikken, an dem ersten

Hän-



geſcharrt der kalten Erde, ſo eng, ſo finſter! —
Jch hatte eine Freundin, die mein Alles war mei-
ner huͤlfloſen Jugend, ſie ſtarb und ich folgte ih-
rer Leiche, und ſtand an dem Grabe. Wie ſie
den Sarg hinunter ließen und die Seile ſchnurrend
unter ihm weg und wieder herauf ſchnellten, dann
die erſte Schaufel hinunter ſchollerte und die aͤngſt-
liche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dump-
fer und immer dumpfer und endlich bedecktwar! —
Jch ſtuͤrzte neben das Grab hin — Ergriffen erſchuͤt-
tert geaͤngſtet zerriſſen mein innerſtes, aber ich wuſte
nicht wie mir geſchah, — wie mir geſchehen wird —
Sterben! Grab! Jch verſtehe die Worte nicht!

O vergieb mir! vergieb mir! Geſtern! Es haͤt-
te der lezte Augenblik meines Lebens ſeyn ſollen.
O du Engel! zum erſtenmale, zum erſtenmale ganz
ohne Zweifel durch mein innig innerſtes durchgluͤhte
mich das Wonnegefuͤhl: Sie liebt mich! Sie liebt
mich. Es brennt noch auf meinen Lippen das
heilige Feuer das von den deinigen ſtroͤhmte, neue
warme Wonne iſt in meinem Herzen. Vergieb
mir, vergieb mir.

Ach ich wuſte, daß du mich liebteſt, wuſte es
an den erſten ſeelenvollen Blikken, an dem erſten

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[210/0098] geſcharrt der kalten Erde, ſo eng, ſo finſter! — Jch hatte eine Freundin, die mein Alles war mei- ner huͤlfloſen Jugend, ſie ſtarb und ich folgte ih- rer Leiche, und ſtand an dem Grabe. Wie ſie den Sarg hinunter ließen und die Seile ſchnurrend unter ihm weg und wieder herauf ſchnellten, dann die erſte Schaufel hinunter ſchollerte und die aͤngſt- liche Lade einen dumpfen Ton wiedergab, und dump- fer und immer dumpfer und endlich bedecktwar! — Jch ſtuͤrzte neben das Grab hin — Ergriffen erſchuͤt- tert geaͤngſtet zerriſſen mein innerſtes, aber ich wuſte nicht wie mir geſchah, — wie mir geſchehen wird — Sterben! Grab! Jch verſtehe die Worte nicht! O vergieb mir! vergieb mir! Geſtern! Es haͤt- te der lezte Augenblik meines Lebens ſeyn ſollen. O du Engel! zum erſtenmale, zum erſtenmale ganz ohne Zweifel durch mein innig innerſtes durchgluͤhte mich das Wonnegefuͤhl: Sie liebt mich! Sie liebt mich. Es brennt noch auf meinen Lippen das heilige Feuer das von den deinigen ſtroͤhmte, neue warme Wonne iſt in meinem Herzen. Vergieb mir, vergieb mir. Ach ich wuſte, daß du mich liebteſt, wuſte es an den erſten ſeelenvollen Blikken, an dem erſten Haͤn-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/98>, abgerufen am 27.04.2024.