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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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kritische Beseitigung den Geist der Begeisterung hemmen würde, sie einer pgo_113.002
späteren besonnenen Kritik zu überlassen, ist gewiß förderlich, und auch in pgo_113.003
Schiller's Fragmenten finden sich zahlreiche Stellen, in denen Gedankenstriche pgo_113.004
Wörter oder Verse andeuten, welche die Jnspiration dem Dichter pgo_113.005
nicht gleich an die Hand gab, und die er daher einem späteren dichterischen pgo_113.006
Nachsinnen überließ.

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Jn der Skizze machen sich bereits die Gesetze der Komposition geltend. pgo_113.008
Die Komposition kann ebenfalls als Vorarbeit der Dichtung pgo_113.009
betrachtet werden; doch gewinnt sie ihr volles Gepräge erst in der Ausführung pgo_113.010
selbst. Sie ist kein äußeres Schema, keine voraus gefertigte pgo_113.011
Schablone; sie ist das der Dichtung inwohnende Formgesetz, durch dessen pgo_113.012
Evolution das Dichtwerk entsteht. Das Naturschöne, wie es der Dichter pgo_113.013
findet, ist ein Rohstoff, der erst einem Scheidungs- und Läuterungsproceß pgo_113.014
unterworfen werden muß, eh' er sich einer weiteren künstlerischen pgo_113.015
Behandlung fähig erweist. Die erste Thätigkeit der Komposition ist pgo_113.016
die Ausscheidung des Stoffartigen, mit welcher eine Abrundung durch pgo_113.017
die ersten Zuthaten aus der Seele des Dichters verbunden ist. Der Dramatiker pgo_113.018
z. B. wählt einen historischen Charakter zum Mittelpunkte seines pgo_113.019
Drama's. Die Geschichte überliefert ihm eine Fülle von Daten, die sich pgo_113.020
auf diesen Charakter beziehen. Zunächst schneidet er das Segment einer pgo_113.021
bestimmten Handlung aus dem ganzen Lebenskreise heraus, denn eine pgo_113.022
ganze Biographie in Scene zu setzen, ist eine Art und Weise, welche Platen pgo_113.023
im "romantischen Oedipus" vortrefflich persifflirt hat. Die historische pgo_113.024
Handlung ist aber mit einer Fülle von Einzelnheiten behaftet, die für den pgo_113.025
Dramatiker unbrauchbar sind. Darunter befindet sich Manches, welches pgo_113.026
dem Anschein nach der Gestaltung günstig ist, aber als ein "Zuviel" ausgesondert pgo_113.027
werden muß. Schiller mußte sich z. B. in seinem "Wallenstein" pgo_113.028
auf eine bestimmte Zahl der Obristen und Generale beschränken, pgo_113.029
die er um den Haupthelden gruppirte. Nach historischen Vermuthungen pgo_113.030
war Wallenstein's Astrolog, Seni, mit gegen ihn verschworen. Der pgo_113.031
Dichter begnügte sich, an Octavio und Buttler den Treubruch gegen den pgo_113.032
Feldherrn darzustellen. Die Ermordung von Jllo, Terzky und Kinsky pgo_113.033
auf dem Schlosse, wohin sie der Commandant Gordon eingeladen, hat pgo_113.034
der Dichter nicht dramatisirt, um dadurch nicht den Eindruck der pgo_113.035
Ermordung Wallenstein's abzuschwächen. Der ahnungsvolle Blick,

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kritische Beseitigung den Geist der Begeisterung hemmen würde, sie einer pgo_113.002
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nicht gleich an die Hand gab, und die er daher einem späteren dichterischen pgo_113.006
Nachsinnen überließ.

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Die Komposition kann ebenfalls als Vorarbeit der Dichtung pgo_113.009
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Handlung ist aber mit einer Fülle von Einzelnheiten behaftet, die für den pgo_113.025
Dramatiker unbrauchbar sind. Darunter befindet sich Manches, welches pgo_113.026
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/135>, abgerufen am 04.05.2024.