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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Und hier bricht er ab und erzählt in einer langen Reihe von Gesängen pgo_342.002
die Schicksale des Odysseus! Wie wird Telemachos ankommen? pgo_342.003
Wird er dem Hinterhalt der Freier glücklich entgehen? Wird die sorgenvolle pgo_342.004
Mutter den Geretteten wieder in die Arme schließen? Mit diesen pgo_342.005
ungelösten Fragen entläßt uns der Dichter, hemmt die Erzählung mitten pgo_342.006
in ihrem Verlauf und führt die Entwickelung der Hauptbegebenheit pgo_342.007
weiter fort. Durch diese Hemmung fesselt er zugleich! Während wir pgo_342.008
weiter hören oder lesen, bleibt im dunkeln Grunde unseres Gemüthes die pgo_342.009
Erwartung zurück, den weiteren Fortgang jener abgebrochenen Begebenheit pgo_342.010
zu erfahren. Dieser epische Effekt des Hinausschiebens ist dem pgo_342.011
Dramatischen entgegengesetzt. Der Epiker schließt einen Abschnitt seiner pgo_342.012
Dichtung in hemmender und abbrechender Weise; der Dramatiker im pgo_342.013
Gegentheil schließt den Akt mit einem entscheidenden, zu voller Geltung pgo_342.014
gebrachten Moment der Handlung. Die Technik des neuen Romans, pgo_342.015
für welche das geschickte Abbrechen und Aufnehmen der Fäden ein wesentliches pgo_342.016
Mittel ist, das Jnteresse immer wach zu halten, kann sich daher pgo_342.017
auf das Muster der ältesten Volksepopöen berufen.

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Was nun die Darstellungsweise des Epos betrifft, so läßt sie sich am pgo_342.019
schlagendsten als eine "plastische" bezeichnen. Hegel nannte die Bilder pgo_342.020
des Epikers "Skulpturbilder der Vorstellung." Fest auf sich selbst ruhend, pgo_342.021
wie aus Erz und Marmor gegossen, klar, bestimmt, von zusammenhängenden pgo_342.022
Linien und Formen, bis in's Einzelne ausgeprägt, sollen die pgo_342.023
epischen Gestalten vor unsern Augen stehn; Alles, was der Epiker schafft, pgo_342.024
soll ein Reliefbild sein. Das Epos verlangt die höchste Objektivität des pgo_342.025
Styles. Auch die innere Welt der Seele muß uns, wie die äußere, in pgo_342.026
klarem Zusammenhang vorgeführt werden. Jn unserer Zeit der größern pgo_342.027
Jnnerlichkeit läßt sich die Empfindung nicht immer durch die Anschauung pgo_342.028
darstellen; aber die Welt der Empfindungen, der Vorstellungen, die vor pgo_342.029
der Seele vorüberziehn, muß uns wie ein innerlicher Kosmos in klarer pgo_342.030
Aufeinanderfolge dargelegt werden! Und niemals darf der Epiker seiner pgo_342.031
eigenen Empfindung einen beredtsamen Ausdruck vergönnen! Sie darf pgo_342.032
sich nur in der Wärme und Jnnigkeit offenbaren, mit der sie die Empfindung pgo_342.033
seiner Helden durchdringt! Tiefe und zarte psychologische Entwickelungen, pgo_342.034
wie sie sich in den Romanen einer George Sand, eines pgo_342.035
Balzac u. A. finden, sind daher echt episch, sobald sie nur am Faden

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/364>, abgerufen am 28.04.2024.