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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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jener elegische Zug, der durch Ossian's Heldengedichte geht, am pgo_348.002
ergreifendsten, wo er am Grabe seines Sohnes Oskar weint, die ewige pgo_348.003
Klage, daß nichts Edles und Herrliches in dieser Welt Bestand hat, und pgo_348.004
daß die Jugend selbst ein früher Tod ereilt. Und auch das Jugendalter pgo_348.005
der Welt, das solche Helden schafft, hat keinen Bestand! Das ist ein pgo_348.006
Zug weltgeschichtlicher Trauer, der durch diese großen Epopöen geht. pgo_348.007
Auf den Fall jener Lichthelden folgt die Rache: Jlium's Zerstörung, Kai pgo_348.008
Kosrus Rachezug gegen Turan, der Untergang der Burgunder durch pgo_348.009
Chriemhild! Jn diesen blutigen und düstern Katastrophen findet die pgo_348.010
epische Volkssage ihren Schlußstein.

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Sehr richtig hat Carriere darauf hingewiesen, daß dem großen pgo_348.012
Epos des Völkerkampfes und Heldentodes meistens ein sanfteres Epos pgo_348.013
zur Seite ging, dessen Mittelpunkt die Verherrlichung der weiblichen pgo_348.014
Treue bildet: Nal und Damajanti, die Odyssee, die Gudrun. pgo_348.015
Nal und Damajanti ist bekanntlich eine Episode des Mahabharata, pgo_348.016
eine umgekehrte Odyssee, in der das Weib in Wäldern und Städten pgo_348.017
umirrt nach dem Manne, der sie verlassen, bis sie das Geschick wieder pgo_348.018
mit einander vereinigt. Doch man könnte das Ramayana selbst als das pgo_348.019
Epos der Treue betrachten, indem ja sein Held Rama die geliebte Gattin pgo_348.020
Sita dem Wildnißriesen Ravanas auf einem siegreichen Heerzug pgo_348.021
nach Lanka (Ceylon) wieder abkämpft. Sita beweist ihre Treue durch pgo_348.022
ein Feuerordale. Auch hier bildet die glückliche Vereinigung der getrennten pgo_348.023
Gatten den Schluß des Epos, das in seinem abenteuerlichen Zug pgo_348.024
in die Ferne, einem Zug von kulturbringender Bedeutung, die durch den pgo_348.025
Pflugträger, der den Helden begleitet, ausgedrückt ist, in dem pgo_348.026
märchenhaften Zauber, der um diese Völker der Ferne, die Affenvölker pgo_348.027
und ihre Helden schwebt, in seiner nicht auf einen Punkt koncentrirten, pgo_348.028
sondern hinausschweifenden Kampfeslust an die Odyssee erinnert.

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Auch darin kommen alle diese Volksepopöen überein, daß das Volk pgo_348.030
in den entscheidenden Zügen der Sage dem Sänger vorgedichtet hat, der pgo_348.031
mit künstlerischer Kraft und künstlerischem Bewußtsein aus diesen Ueberlieferungen pgo_348.032
ein organisches Ganze schuf. Jn ihrer letzten Gestalt tragen pgo_348.033
sie ein einheitliches Gepräge, das nicht blos auf eine ordnende Hand, pgo_348.034
sondern auf einen schöpferischen Genius hindeutet, der wie eine Sonne

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jener elegische Zug, der durch Ossian's Heldengedichte geht, am pgo_348.002
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Chriemhild! Jn diesen blutigen und düstern Katastrophen findet die pgo_348.010
epische Volkssage ihren Schlußstein.

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Sehr richtig hat Carrière darauf hingewiesen, daß dem großen pgo_348.012
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Auch darin kommen alle diese Volksepopöen überein, daß das Volk pgo_348.030
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/370>, abgerufen am 28.04.2024.