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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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über dieser Sagenwelt aufging und ihre zerstreuten Gestalten in ein pgo_349.002
gemeinsames und ewiges Licht setzte.

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Unter allen diesen Epopöen nehmen Homer's "Jlias" und pgo_349.004
"Odyssee" den ersten Rang ein. Diese hellenischen Volksbibeln sind pgo_349.005
zugleich gesetzgeberisch für das Epos aller Zeiten. Das Epos, als die pgo_349.006
plastische Dichtung, mußte seine höchste Blüthe in jenem Volke jugendlicher pgo_349.007
Plastik erreichen, das, einzig in der Weltgeschichte, dies Jdeal der pgo_349.008
klaren und festen Formenschönheit vertritt. Die "Jlias" behandelt pgo_349.009
den Kampf vor Troja, nicht seine zehnjährige Belagerung, sondern die pgo_349.010
entscheidenden Ereignisse des letzten Jahres, welche den Sturz der Veste pgo_349.011
herbeiführten, Ereignisse, die ihren Mittelpunkt im jugendlichen Heldencharakter pgo_349.012
des Achilleus finden. Die "Odyssee" behandelt die Heimkehr pgo_349.013
von Troja, indem sie ebenfalls einen Helden, den Odysseus, zum Mittelpunkte pgo_349.014
macht und die Schicksale der andern heimkehrenden Helden nur pgo_349.015
in zerstreuten Erzählungen einschaltet. Die seltene Meisterschaft einer pgo_349.016
maaßvollen Darstellung, die von jeder Ueberladung frei und doch reich pgo_349.017
an gesättigten Farben ist; die großartige Auffassung, welche, ohne die pgo_349.018
Einheit des Epos zu opfern, ein Kultur- und Weltgemälde entrollt; die pgo_349.019
unendliche Naivetät eines glücklichen Zeitalters, die sich in diesen Göttern pgo_349.020
und Helden ausspricht; die kunstvolle Komposition, welche eine echt epische pgo_349.021
Steigerung und Spannung nach Zielen hin, die von Anfang an klar pgo_349.022
und bestimmt sind, zur Geltung bringt; die Plastik der Charaktere, die pgo_349.023
bei allem Reichthum der Züge doch harmonisch, bei aller Kraft und pgo_349.024
Größe doch echt menschlich sind; eine rhythmische Behandlung, welche pgo_349.025
den Hexameter selbst, wie einen marmornen Vers, zu vollkommenem pgo_349.026
plastischem Ausdruck meißelt -- alle diese Vorzüge machen aus jenen pgo_349.027
jonischen Gesängen ewige Muster der Kunst, aus denen noch die spätesten pgo_349.028
Geschlechter die harmonische Durchdringung von Form und Jnhalt pgo_349.029
erlernen werden, welche das Wesen des echten und unsterblichen Kunstwerkes pgo_349.030
ist. Die indischen Epopöen, Mahabharata und Ramayana, pgo_349.031
besonders die erstere, sind reich an großen und phantasievollen Zügen; pgo_349.032
der Kampf der Helden auf ihren Elephanten und Streitwagen ist oft pgo_349.033
mit anschaulicher Plastik geschildert; das indische Naturleben tritt mit pgo_349.034
exotischem Arom vor uns hin, und die Lieblichkeit der Jdylle erinnert

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/371>, abgerufen am 28.04.2024.