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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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eine Art mythischer Geschichtschreibung in Versen. Spätere epische pgo_360.002
Dichter einer Epoche, in welcher sich lyrische und dramatische Poesie pgo_360.003
bereits entwickelt hatten, konnten von diesen Einflüssen nicht unberührt pgo_360.004
bleiben. So rühmt man an der Thebais des Antimachos, dem pgo_360.005
Lieblingsepos des Kaisers Hadrian, den erhabenen Styl und, im Gegensatze pgo_360.006
zu Homerischer Einfachheit, die uneigentliche bilderreiche Ausdrucksweise. pgo_360.007
Jnteressant bleibt der Versuch des Choerilos, ein streng-historisches pgo_360.008
Epos aus der jüngsten Gegenwart zu dichten und in seiner "Perseis" pgo_360.009
den Sieg der Athener über die Perser ohne jede mythische Beimischung pgo_360.010
zu besingen. Die Argonautika des Appolonius Rhodus pgo_360.011
dagegen aus dem alexandrinischen Zeitalter schließt sich wieder enger an pgo_360.012
das Homerische Vorbild an.

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Das große Epos der Römer, die "Aeneis" des Virgilius Maro, pgo_360.014
das Werk eines gewandten Kunstverstandes und patriotischen Sinnes, ist pgo_360.015
eine pathetische Nachdichtung der naiven Homerischen Muster. Homer pgo_360.016
dichtete durch das Volk, Virgil für das Volk. Ein lebendiges Nationalgefühl, pgo_360.017
verbunden mit einer klugen Berechnung, ließ ihn jene Elemente pgo_360.018
der alten Sage auswählen, an welche sich die Herrlichkeit und Majestät der pgo_360.019
römischen Traditionen ungezwungen anknüpfte. Wie schmeichelhaft mußte pgo_360.020
es für die Römer erscheinen, von jenem tapfern Aeneas abzustammen, den pgo_360.021
ein Göttergeschick an Latiums Küste führt! Wie fesselnd wußte der Dichter, pgo_360.022
unbekümmert um alle Anachronismen, in der Episode von Dido und pgo_360.023
Aeneas ein individuelles Geschick zum Spiegel des Völkergeschickes zu pgo_360.024
machen und im Scheiterhaufen der von Liebe besiegten Dido den Brand pgo_360.025
Carthago's ahnen zu lassen! Und nicht blos an die glänzendsten Reminiscenzen pgo_360.026
der römischen Geschichte, an die punischen Kriege erinnerte diese pgo_360.027
Episode -- es lag in ihr zugleich eine feine Schmeichelei für den großen pgo_360.028
Cäsar Augustus, der sich ebensowenig wie Aeneas von einer andern pgo_360.029
syrisch-lybischen Fürstenschönheit, der üppigen Cleopatra, verlocken ließ, pgo_360.030
seiner geschichtlichen Sendung untreu zu werden! Wie imposant erscheint pgo_360.031
in der Unterwelt die Weissagung des Anchises von der Zukunft des pgo_360.032
völkerbeherrschenden Roms! Und indem so Virgil sein Epos mit allen pgo_360.033
jenen schmeichlerischen Zügen ausstattete, welche ihm die Bewunderung pgo_360.034
und Dankbarkeit der Quiriten sichern konnten, bewahrte er zugleich auf's pgo_360.035
Strengste die künstlerische Einheit der Komposition durch den bestimmten

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dagegen aus dem alexandrinischen Zeitalter schließt sich wieder enger an pgo_360.012
das Homerische Vorbild an.

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Das große Epos der Römer, die „Aeneis“ des Virgilius Maro, pgo_360.014
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dichtete durch das Volk, Virgil für das Volk. Ein lebendiges Nationalgefühl, pgo_360.017
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/382>, abgerufen am 28.04.2024.