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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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der Urahn der Byron'schen und Shelley'schen skeptischen Teufel, ist weder pgo_369.002
ein Dante'sches inkarnirtes Ungethüm, noch ein lustiger Volksteufel -- pgo_369.003
er ist der Urprotestant, dem Himmel und Hölle gleichgültig, weil der pgo_369.004
Geist seinen Himmel und seine Hölle in sich selbst trägt! Die ewige pgo_369.005
Rebellion des freien Gedankens gegen die Autorität ist der religiösphilosophische pgo_369.006
Gegensatz in Milton's "lost paradise," das reich ist an oft pgo_369.007
bizarren, oft aber überaus anmuthigen und schönen Schilderungen! Wenn pgo_369.008
in ihm, neben dem Gedankenvollen, das Malerische überwiegt, so in pgo_369.009
Klopstock's "Messiade" das Musikalische, ein theologischer Schwung pgo_369.010
aus voller Brust, ein Hymnen- und Oratorienstyl mit oft erhabenen, oft pgo_369.011
gedankenleeren Anläufen. Die Umdichtung der alten Evangelien- pgo_369.012
Harmonieen im Element einer neuen, antikbiblischen Form und durch pgo_369.013
einen schwunghaften Genius mußte für unsere literarische Entwickelung pgo_369.014
Epoche machend sein, erreichte aber bei weitem nicht die plastische Größe pgo_369.015
des Dante'schen "Jnferno," die Gedankenhoheit des Milton'schen Paradieses.

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Jn Dante und Milton ist der religiöse Stoff philosophisch erfaßt pgo_369.018
-- noch mehr wird unsere Gegenwart das religiöse Epos in das philosophische pgo_369.019
verwandeln. Byron's Mysterien, Goethe's "Faustiade" und pgo_369.020
andere hier einschlagende Dichtungen haben zwar keine strenge, sondern, pgo_369.021
wie schon Dante's divina commedia, eine über die Gattungen übergreifende pgo_369.022
Kunstform. Doch läßt sie die dialogisirte Einkleidung, die pgo_369.023
Nachahmung der alten Mysterien, Moralitäten und Volksschauspiele der pgo_369.024
dramatischen Dichtung einreihn. Dagegen dürfte Julius Mosen's pgo_369.025
"Ahasver" beweisen, daß ein religiös-philosophisches Epos in strenger pgo_369.026
Form auch für unsere Zeit noch zu dichten ist; ja es scheint uns zweifellos, pgo_369.027
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zu spiegeln vermag, sich besser für religiös-philosophische Dichtungen eignet, pgo_369.029
als die dramatische, indem der Dialog nicht die Breite und Fülle einer pgo_369.030
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Wie für das Erhabene, ist die epische Darstellungsweise auch für das pgo_369.033
Komische geeignet, das die Breite der Sinnlichkeit liebt. Das Komische pgo_369.034
kann geradezu als Parodie des Erhabenen auftreten -- so parodirte der

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/391>, abgerufen am 28.04.2024.