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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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allein berechtigt; doch kann sich die freispielende und scherzende Phantasie pgo_375.002
mit gleichem Rechte des Fabelstoffes bemächtigen. Die metrische Form pgo_375.003
und der Reim geben der Fabel sowohl pointirten Abschluß, als auch pgo_375.004
lapidarische Haltung -- und wenn Lessing seine Fabeln in Prosa schrieb, pgo_375.005
so mag für ihn seine eigene Entschuldigung gelten: er habe die Versifikation pgo_375.006
nie so in seiner Gewalt gehabt, daß er auf keine Weise besorgen pgo_375.007
dürfen, das Sylbenmaaß und der Reim werde hier und da den Meister pgo_375.008
über ihn spielen.

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Wir erwähnen als Fabeldichter den Griechen Aesop, den Römer pgo_375.010
Phädrus, den Jndier Bidpai, den Araber Lokman, den Engelländer pgo_375.011
Gay, den Franzosen Lafontaine, der den Konversationston des Salons pgo_375.012
auf das Thierreich übertrug. Von älteren deutschen Fabeldichtern ist pgo_375.013
Stricker, Boner, Burkard Waldis anzuführen. Gellert war pgo_375.014
weitschweifig wie Lafontaine, aber in seiner Redseligkeit mehr doktrinair pgo_375.015
als humoristisch; kürzer waren Pfeffel, Gleim und besonders pgo_375.016
Lichtwer und Lessing. Jn neuer Zeit ist die Fabel wenig angebaut, pgo_375.017
nur der Schweizer Fröhlich verdient Erwähnung.

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b. Die Parabel.

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Die Parabel stellt ebenfalls wie die Fabel einen allgemeinen Satz pgo_375.020
in der Form eines besondern Falles dar; aber für die Fabel ist dieser Fall pgo_375.021
Wirklichkeit, für die Parabel Möglichkeit, für die Fabel Geschichte, pgo_375.022
für die Parabel Beispiel. Die Parabel wählt daher in der pgo_375.023
Regel alltägliche menschliche Handlungen, die nicht einmal geschehn pgo_375.024
sind, sondern immer wieder geschehn. Der Sämann z. B., der seinen pgo_375.025
Samen ausstreut, ist kein bestimmtes Portrait; er vertritt nur die Millionen pgo_375.026
Ackersleute der Erde. Die Parabel veranschaulicht in der Regel eine pgo_375.027
volksthümliche Wahrheit an einem volksthümlichen Beispiele. Deshalb pgo_375.028
muß sie durchsichtig sein -- der Sinn meist von Anfang an durch die pgo_375.029
krystallklare Darstellung der Thatsache hindurchschimmern. Die schönsten pgo_375.030
Parabeln enthält das neue Testament. Die Herder'schen "Paramythien" pgo_375.031
sind mythische Parabeln, in denen der besondere Fall, das Beispiel, einem pgo_375.032
alten oder neu umgedichteten Mythos angehört. Einige scherzhafte Parabeln pgo_375.033
hat Goethe gedichtet.

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b. Die Parabel.

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/397>, abgerufen am 27.04.2024.