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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Eva," ihn wieder einzuführen, hat wenig Anklang gefunden, vielleicht pgo_374.002
weil zu viele Elemente moderner Bildung und Reflexion z. B. Betrachtungen pgo_374.003
über Humboldt's Kosmos mit in die Waldeinsamkeit hinübergenommen pgo_374.004
waren; doch verdient er schon als künstlerische Reaktion gegen pgo_374.005
die immer seichter werdende Prosa der Dorfgeschichten Beachtung.

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2. Die didaktisch-epische Erzählung.

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Diese Erzählung ist sich nicht Selbstzweck; sie stellt eine Moral, eine pgo_374.008
Weisheitslehre in anschaulichen Bildern dar. Ton und Styl sind episch; pgo_374.009
aber das Lehrhafte liegt zu Grunde. Die epische Unbefangenheit wird pgo_374.010
einer darzustellenden Bedeutung geopfert. Wir können zwei Hauptarten pgo_374.011
unterscheiden:

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a. Die Fabel.

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Die Fabel ist die erdichtete Geschichte eines besondern Falls, in pgo_374.014
welchem wir anschauend eine allgemeine Wahrheit erkennen. Der pgo_374.015
größte Theil der Fabeln hat Thiere zu handelnden Personen, weil die pgo_374.016
Thiere wegen der allgemein bekannten Bestimmtheit ihrer Charaktere für pgo_374.017
die Zwecke des Fabeldichters am bequemsten sind. Die Schranken ihrer pgo_374.018
Natur werden zwar insofern erweitert, als man ihnen Sprache und pgo_374.019
vernünftige Absichten leiht; aber ihr wesentlicher Charakter darf nicht pgo_374.020
verändert werden. Der Fabeldichter darf das Schaf nicht verwegen, den pgo_374.021
Wolf nicht sanftmüthig, den Esel nicht feurig vorstellen. Die Fabel ist pgo_374.022
naiv; sie stellt ihre Geschichte weder als eine Allegorie, noch als ein pgo_374.023
Wunder dar, sondern als eine Wirklichkeit, die sich in einer Zeit zugetragen, pgo_374.024
in welcher die Voraussetzungen des "Fabeldichters" selbstverständliche pgo_374.025
Geltung hatten. Die Moral der Fabel ist entweder in ihr latent, pgo_374.026
oder sie kann noch besonders am Anfange oder Schlusse ausgesprochen pgo_374.027
werden. Wir können die Fabel eintheilen in die epigrammatische, pgo_374.028
die Fabel des Aesop, und in die humoristische, die Fabel des Lafontaine. pgo_374.029
Die erste giebt in der Darstellung des besondern Falles Nichts pgo_374.030
als was zur Anschauung des allgemeinen Satzes gehört; sie ist präcis pgo_374.031
und von lapidarischer Kürze. Jhrer objektiven Haltung steht die subjektive pgo_374.032
der zweiten entgegen, welche mit heiterer Geschwätzigkeit hin und pgo_374.033
her schweifende Arabesken um den Rahmen der Geschichte flicht. Lessing's pgo_374.034
scharfer Verstand, der immer nur auf den Kern dringt, hält die erste für

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[374/0396] pgo_374.001 Eva,“ ihn wieder einzuführen, hat wenig Anklang gefunden, vielleicht pgo_374.002 weil zu viele Elemente moderner Bildung und Reflexion z. B. Betrachtungen pgo_374.003 über Humboldt's Kosmos mit in die Waldeinsamkeit hinübergenommen pgo_374.004 waren; doch verdient er schon als künstlerische Reaktion gegen pgo_374.005 die immer seichter werdende Prosa der Dorfgeschichten Beachtung. pgo_374.006 2. Die didaktisch-epische Erzählung. pgo_374.007 Diese Erzählung ist sich nicht Selbstzweck; sie stellt eine Moral, eine pgo_374.008 Weisheitslehre in anschaulichen Bildern dar. Ton und Styl sind episch; pgo_374.009 aber das Lehrhafte liegt zu Grunde. Die epische Unbefangenheit wird pgo_374.010 einer darzustellenden Bedeutung geopfert. Wir können zwei Hauptarten pgo_374.011 unterscheiden: pgo_374.012 a. Die Fabel. pgo_374.013 Die Fabel ist die erdichtete Geschichte eines besondern Falls, in pgo_374.014 welchem wir anschauend eine allgemeine Wahrheit erkennen. Der pgo_374.015 größte Theil der Fabeln hat Thiere zu handelnden Personen, weil die pgo_374.016 Thiere wegen der allgemein bekannten Bestimmtheit ihrer Charaktere für pgo_374.017 die Zwecke des Fabeldichters am bequemsten sind. Die Schranken ihrer pgo_374.018 Natur werden zwar insofern erweitert, als man ihnen Sprache und pgo_374.019 vernünftige Absichten leiht; aber ihr wesentlicher Charakter darf nicht pgo_374.020 verändert werden. Der Fabeldichter darf das Schaf nicht verwegen, den pgo_374.021 Wolf nicht sanftmüthig, den Esel nicht feurig vorstellen. Die Fabel ist pgo_374.022 naiv; sie stellt ihre Geschichte weder als eine Allegorie, noch als ein pgo_374.023 Wunder dar, sondern als eine Wirklichkeit, die sich in einer Zeit zugetragen, pgo_374.024 in welcher die Voraussetzungen des „Fabeldichters“ selbstverständliche pgo_374.025 Geltung hatten. Die Moral der Fabel ist entweder in ihr latent, pgo_374.026 oder sie kann noch besonders am Anfange oder Schlusse ausgesprochen pgo_374.027 werden. Wir können die Fabel eintheilen in die epigrammatische, pgo_374.028 die Fabel des Aesop, und in die humoristische, die Fabel des Lafontaine. pgo_374.029 Die erste giebt in der Darstellung des besondern Falles Nichts pgo_374.030 als was zur Anschauung des allgemeinen Satzes gehört; sie ist präcis pgo_374.031 und von lapidarischer Kürze. Jhrer objektiven Haltung steht die subjektive pgo_374.032 der zweiten entgegen, welche mit heiterer Geschwätzigkeit hin und pgo_374.033 her schweifende Arabesken um den Rahmen der Geschichte flicht. Lessing's pgo_374.034 scharfer Verstand, der immer nur auf den Kern dringt, hält die erste für

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 374. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/396>, abgerufen am 28.04.2024.