Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

Bild:
<< vorherige Seite

pgo_378.001
daß die schärfere Herausbildung des episch-plastischen Styles für die pgo_378.002
"poetische Erzählung" das nächste Stadium des künstlerischen Fortschrittes pgo_378.003
bezeichnen wird, und daß die Lyrik sich in dieser Pseudoepik, wie im pgo_378.004
Drama, auf jene Stellen beschränken muß, wo die Handlung selbst Stoffe pgo_378.005
der Empfindung berührt, wie z. B. in der Darstellung der Liebe. Sonst pgo_378.006
bleibt die poetische Erzählung zwitterhaft, herüber und hinüberschillernd pgo_378.007
und schielend; das subjektive Pathos zersetzt die historische Plastik; die pgo_378.008
eigentliche Begebenheit wird chronikartig erzählt und diese Chronik überwuchert pgo_378.009
von lyrischen Arabesken, die selbst wieder kein fertiges Bild geben pgo_378.010
können, -- kurz, wir erhalten statt eines Kunstwerkes eine fashionable pgo_378.011
Miniaturausgabe, wo epische Dürre und lyrische Fülle zur Unzeit sich pgo_378.012
ablösen, die That lyrisch besungen, die Liebe episch beschrieben wird und pgo_378.013
der glatte Firniß einer gebildeten Sprache, "die für den Dichter dichtet pgo_378.014
und denkt," vergebens den klaffenden Spalt zu verdecken sucht, der die pgo_378.015
verschiedenartigen, principlos zusammengeschweißten Dichtformen trennt.



pgo_378.016
Fünfter Abschnitt.
pgo_378.017
Der Roman und die Novelle.

pgo_378.018
Der Roman wird das Epos der Neuzeit genannt, weil er, wie pgo_378.019
das Volksepos, ein umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts giebt! pgo_378.020
Da aber die Kultur unseres Jahrhunderts durch eine große Kluft von pgo_378.021
den Zuständen des heroischen und patriarchalischen Zeitalters geschieden pgo_378.022
ist, da die Sonderung der Stände und Beschäftigungen, die Vervollkommnung pgo_378.023
und Vereinzelung der Technik, die verwickelte Organisation pgo_378.024
des Staatslebens, die Ausbreitung der Jnteressen des Handels und Verkehrs pgo_378.025
über die ganze Erde, die Vielseitigkeit der geistigen Richtungen, die pgo_378.026
Leidenschaftlichkeit der Tendenzen auf religiösem, politischem und socialem pgo_378.027
Gebiet unsere Kultur in die Breite und Tiefe entwickelt und nach allen pgo_378.028
Seiten hin in schwierige Probleme verstrickt haben: so erscheint die alte pgo_378.029
Kunstform des Epos, deren wesentliche Voraussetzung eine leicht zu überschauende pgo_378.030
Einfachheit der Zustände ist, als ungenügend, ein großes und pgo_378.031
ganzes Gemälde der Zeit zu entrollen, und es muß an seine Stelle eine

pgo_378.001
daß die schärfere Herausbildung des episch-plastischen Styles für die pgo_378.002
„poetische Erzählung“ das nächste Stadium des künstlerischen Fortschrittes pgo_378.003
bezeichnen wird, und daß die Lyrik sich in dieser Pseudoepik, wie im pgo_378.004
Drama, auf jene Stellen beschränken muß, wo die Handlung selbst Stoffe pgo_378.005
der Empfindung berührt, wie z. B. in der Darstellung der Liebe. Sonst pgo_378.006
bleibt die poetische Erzählung zwitterhaft, herüber und hinüberschillernd pgo_378.007
und schielend; das subjektive Pathos zersetzt die historische Plastik; die pgo_378.008
eigentliche Begebenheit wird chronikartig erzählt und diese Chronik überwuchert pgo_378.009
von lyrischen Arabesken, die selbst wieder kein fertiges Bild geben pgo_378.010
können, — kurz, wir erhalten statt eines Kunstwerkes eine fashionable pgo_378.011
Miniaturausgabe, wo epische Dürre und lyrische Fülle zur Unzeit sich pgo_378.012
ablösen, die That lyrisch besungen, die Liebe episch beschrieben wird und pgo_378.013
der glatte Firniß einer gebildeten Sprache, „die für den Dichter dichtet pgo_378.014
und denkt,“ vergebens den klaffenden Spalt zu verdecken sucht, der die pgo_378.015
verschiedenartigen, principlos zusammengeschweißten Dichtformen trennt.



pgo_378.016
Fünfter Abschnitt.
pgo_378.017
Der Roman und die Novelle.

pgo_378.018
Der Roman wird das Epos der Neuzeit genannt, weil er, wie pgo_378.019
das Volksepos, ein umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts giebt! pgo_378.020
Da aber die Kultur unseres Jahrhunderts durch eine große Kluft von pgo_378.021
den Zuständen des heroischen und patriarchalischen Zeitalters geschieden pgo_378.022
ist, da die Sonderung der Stände und Beschäftigungen, die Vervollkommnung pgo_378.023
und Vereinzelung der Technik, die verwickelte Organisation pgo_378.024
des Staatslebens, die Ausbreitung der Jnteressen des Handels und Verkehrs pgo_378.025
über die ganze Erde, die Vielseitigkeit der geistigen Richtungen, die pgo_378.026
Leidenschaftlichkeit der Tendenzen auf religiösem, politischem und socialem pgo_378.027
Gebiet unsere Kultur in die Breite und Tiefe entwickelt und nach allen pgo_378.028
Seiten hin in schwierige Probleme verstrickt haben: so erscheint die alte pgo_378.029
Kunstform des Epos, deren wesentliche Voraussetzung eine leicht zu überschauende pgo_378.030
Einfachheit der Zustände ist, als ungenügend, ein großes und pgo_378.031
ganzes Gemälde der Zeit zu entrollen, und es muß an seine Stelle eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0400" n="378"/><lb n="pgo_378.001"/>
daß die schärfere Herausbildung des episch-plastischen Styles für die <lb n="pgo_378.002"/>
&#x201E;poetische Erzählung&#x201C; das nächste Stadium des künstlerischen Fortschrittes <lb n="pgo_378.003"/>
bezeichnen wird, und daß die Lyrik sich in dieser Pseudoepik, wie im <lb n="pgo_378.004"/>
Drama, auf jene Stellen beschränken muß, wo die Handlung selbst Stoffe <lb n="pgo_378.005"/>
der Empfindung berührt, wie z. B. in der Darstellung der Liebe. Sonst <lb n="pgo_378.006"/>
bleibt die poetische Erzählung zwitterhaft, herüber und hinüberschillernd <lb n="pgo_378.007"/>
und schielend; das subjektive Pathos zersetzt die historische Plastik; die <lb n="pgo_378.008"/>
eigentliche Begebenheit wird chronikartig erzählt und diese Chronik überwuchert <lb n="pgo_378.009"/>
von lyrischen Arabesken, die selbst wieder kein fertiges Bild geben <lb n="pgo_378.010"/>
können, &#x2014; kurz, wir erhalten statt eines Kunstwerkes eine fashionable <lb n="pgo_378.011"/>
Miniaturausgabe, wo epische Dürre und lyrische Fülle zur Unzeit sich <lb n="pgo_378.012"/>
ablösen, die <hi rendition="#g">That</hi> lyrisch besungen, die <hi rendition="#g">Liebe</hi> episch beschrieben wird und <lb n="pgo_378.013"/>
der glatte Firniß einer gebildeten Sprache, &#x201E;die für den Dichter dichtet <lb n="pgo_378.014"/>
und denkt,&#x201C; vergebens den klaffenden Spalt zu verdecken sucht, der die     <lb n="pgo_378.015"/>
verschiedenartigen, principlos zusammengeschweißten Dichtformen trennt. </p><lb/>
                <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
              </div>
            </div>
            <div n="4">
              <lb n="pgo_378.016"/>
              <head> <hi rendition="#c">Fünfter Abschnitt.</hi> </head>
              <lb n="pgo_378.017"/>
              <head> <hi rendition="#c">Der Roman und die Novelle.</hi> </head>
              <p><lb n="pgo_378.018"/>
Der <hi rendition="#g">Roman</hi> wird das Epos der Neuzeit genannt, weil er, wie <lb n="pgo_378.019"/>
das Volksepos, ein umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts giebt! <lb n="pgo_378.020"/>
Da aber die Kultur unseres Jahrhunderts durch eine große Kluft von <lb n="pgo_378.021"/>
den Zuständen des heroischen und patriarchalischen Zeitalters geschieden <lb n="pgo_378.022"/>
ist, da die Sonderung der Stände und Beschäftigungen, die Vervollkommnung <lb n="pgo_378.023"/>
und Vereinzelung der Technik, die verwickelte Organisation <lb n="pgo_378.024"/>
des Staatslebens, die Ausbreitung der Jnteressen des Handels und Verkehrs <lb n="pgo_378.025"/>
über die ganze Erde, die Vielseitigkeit der geistigen Richtungen, die <lb n="pgo_378.026"/>
Leidenschaftlichkeit der Tendenzen auf religiösem, politischem und socialem <lb n="pgo_378.027"/>
Gebiet unsere Kultur in die Breite und Tiefe entwickelt und nach allen <lb n="pgo_378.028"/>
Seiten hin in schwierige Probleme verstrickt haben: so erscheint die alte <lb n="pgo_378.029"/>
Kunstform des Epos, deren wesentliche Voraussetzung eine leicht zu überschauende <lb n="pgo_378.030"/>
Einfachheit der Zustände ist, als ungenügend, ein großes und <lb n="pgo_378.031"/>
ganzes Gemälde der Zeit zu entrollen, und es muß an seine Stelle eine
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[378/0400] pgo_378.001 daß die schärfere Herausbildung des episch-plastischen Styles für die pgo_378.002 „poetische Erzählung“ das nächste Stadium des künstlerischen Fortschrittes pgo_378.003 bezeichnen wird, und daß die Lyrik sich in dieser Pseudoepik, wie im pgo_378.004 Drama, auf jene Stellen beschränken muß, wo die Handlung selbst Stoffe pgo_378.005 der Empfindung berührt, wie z. B. in der Darstellung der Liebe. Sonst pgo_378.006 bleibt die poetische Erzählung zwitterhaft, herüber und hinüberschillernd pgo_378.007 und schielend; das subjektive Pathos zersetzt die historische Plastik; die pgo_378.008 eigentliche Begebenheit wird chronikartig erzählt und diese Chronik überwuchert pgo_378.009 von lyrischen Arabesken, die selbst wieder kein fertiges Bild geben pgo_378.010 können, — kurz, wir erhalten statt eines Kunstwerkes eine fashionable pgo_378.011 Miniaturausgabe, wo epische Dürre und lyrische Fülle zur Unzeit sich pgo_378.012 ablösen, die That lyrisch besungen, die Liebe episch beschrieben wird und pgo_378.013 der glatte Firniß einer gebildeten Sprache, „die für den Dichter dichtet pgo_378.014 und denkt,“ vergebens den klaffenden Spalt zu verdecken sucht, der die pgo_378.015 verschiedenartigen, principlos zusammengeschweißten Dichtformen trennt. pgo_378.016 Fünfter Abschnitt. pgo_378.017 Der Roman und die Novelle. pgo_378.018 Der Roman wird das Epos der Neuzeit genannt, weil er, wie pgo_378.019 das Volksepos, ein umfassendes Kulturgemälde des Jahrhunderts giebt! pgo_378.020 Da aber die Kultur unseres Jahrhunderts durch eine große Kluft von pgo_378.021 den Zuständen des heroischen und patriarchalischen Zeitalters geschieden pgo_378.022 ist, da die Sonderung der Stände und Beschäftigungen, die Vervollkommnung pgo_378.023 und Vereinzelung der Technik, die verwickelte Organisation pgo_378.024 des Staatslebens, die Ausbreitung der Jnteressen des Handels und Verkehrs pgo_378.025 über die ganze Erde, die Vielseitigkeit der geistigen Richtungen, die pgo_378.026 Leidenschaftlichkeit der Tendenzen auf religiösem, politischem und socialem pgo_378.027 Gebiet unsere Kultur in die Breite und Tiefe entwickelt und nach allen pgo_378.028 Seiten hin in schwierige Probleme verstrickt haben: so erscheint die alte pgo_378.029 Kunstform des Epos, deren wesentliche Voraussetzung eine leicht zu überschauende pgo_378.030 Einfachheit der Zustände ist, als ungenügend, ein großes und pgo_378.031 ganzes Gemälde der Zeit zu entrollen, und es muß an seine Stelle eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/400
Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/400>, abgerufen am 28.04.2024.