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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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scheinbar volksthümlichen, mittelalterlichen Ueberlieferungen. Jhr Streben, die Poesie pgo_478.002
mit dem Leben der Gegenwart zu vermitteln, wurde von der modernen Richtung wieder pgo_478.003
aufgenommen, welche gleichzeitig im Ringen nach künstlerischer Vollendung an pgo_478.004
unsere Classiker anknüpfte. Das Alterthum, das Mittelalter und die Neuzeit wurden pgo_478.005
so nach einander die geistigen Arsenale unserer Literatur, welche aber erst den wahrhaft pgo_478.006
volksthümlichen Boden fand, als sie dem Geiste ihres Jahrhunderts huldigte und ihn pgo_478.007
bei der Wahl der Stoffe und bei ihrer Auffassung zum entscheidenden Kriterium machte. pgo_478.008
Sie that damit nur dasselbe, was Homer und Sophokles, Dante, Calderon und pgo_478.009
Shakespeare gethan, und wodurch sie groß und unsterblich geworden. Unsere Classiker pgo_478.010
hatten dies Princip oft instinctiv erfaßt und ausgeführt, niemals als maaßgebend anerkannt, pgo_478.011
sonst wären ein Achilleis und eine Braut von Messina eine Unmöglichkeit pgo_478.012
gewesen; die Romantiker ebensowenig -- man denke an Heinrich von Ofterdingen pgo_478.013
und Kaiser Octavian. Die principielle Anerkennung, daß die Poesie nicht experimentiren, pgo_478.014
sondern im Geiste ihres Jahrhunderts dichten solle, um echte Volksthümlichkeit pgo_478.015
und ewige Dauer zu gewinnen, schafft erst die moderne Poesie. Von der hellenischen pgo_478.016
Plastik überkommt sie die Klarheit der Form; von der romantischen Jnnerlichkeit pgo_478.017
die Blüthe des Gefühls; aber sie versöhnt beides auf dem neutralen Boden des rein pgo_478.018
Menschlichen,
dessen Emancipation eben der Geist dieses Jahrhunderts ist. Sie pgo_478.019
kennt weder Homer's Olymp, noch Dante's Hölle und Paradies -- sie stellt den pgo_478.020
Menschen auf seine eigenen Füße, und seine Kraft, seine Schönheit, seine Größe wird pgo_478.021
ideal ohne transcendente Beleuchtung. So wird die Humanität unserer Classiker zur pgo_478.022
schönsten Blüthe gezeitigt und das Streben der Romantiker, die Poesie überall im Leben pgo_478.023
zu suchen, zur Vollendung geführt. Die Vergangenheit wird durch die Gegenwart pgo_478.024
bestimmt, nicht die Gegenwart durch die Vergangenheit. Jhr Duft gehört sowenig pgo_478.025
zur Poesie, wie der mystische Höhenrauch des Jenseits. Das nächste Leben der Gegenwart pgo_478.026
zu schildern, entadelt nicht mehr die Kunst; sie gipfelt in ihrem Geiste. Formelle pgo_478.027
Aneignungen und Nachbildungen bleiben ein Spiel des Dilettantismus; der echte pgo_478.028
moderne Geist bildet und durchdringt von selbst die moderne Form, mit Achtung vor pgo_478.029
dem ewigen Gesetze der Schönheit, aber ohne Anlehnung an fremde Muster.

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So fällt nach den leitenden Jdeen dieses Werkes von selbst der Hauptaccent auf pgo_478.031
die moderne Poesie. Doch auch äußerliche Gründe lassen ihre ausgedehnte Behandlung pgo_478.032
begreifen. Unsere Classiker gehören in ihrer Entwickelung mehr dem vorigen Jahrhundert pgo_478.033
an; sie bilden nur den Ausgangspunkt unseres Werks. Die Exegese ihrer Schriften pgo_478.034
ist unerschöpflich bis zur Ermüdung, und nutzlos wär' es, das oft und gut Gesagte pgo_478.035
zu wiederholen. Uns kam es darauf an, die noch fortlebenden Resultate ihres Wirkens pgo_478.036
unter die Beleuchtung zu rücken, in welcher uns der Fortgang der Literatur erscheint, pgo_478.037
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Die Größe ihrer Verdienste wird allgemein mit solcher Ueberschwänglichkeit anerkannt, pgo_478.039
daß es uns, ohne die Pietät zu verleugnen, doch mehr darauf ankommen mußte, die pgo_478.040
Lücken in ihren Leistungen nachzuweisen, welche das Streben einer späteren Generation pgo_478.041
zu ermuthigen im Stande sind. Dasselbe gilt von der romantischen Poesie. Nach pgo_478.042
den Untersuchungen des graziösen Hermann Hettner, des scharfsinnigen Julian pgo_478.043
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nach der fulminanten Polemik der deutschen Jahrbücher, den frivolen, pgo_478.044
aber schlagenden Lakonismen Heine's, welche die früheren Darlegungen eines so pgo_478.045
bedeutenden Literarhistorikers, wie Gervinus, und die vermittelnde Auffassung des pgo_478.046
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abgeschlossen, daß nur in einzelnen Erörterungen neue Gesichtspunkte geltend gemacht pgo_478.048
werden können. Anders verhält es sich mit der modernen Poesie. Hier konnte sich eine pgo_478.049
wesentlich neue Auffassung des Entwickelungsganges und der einzelnen Erscheinungen pgo_478.050
Bahn zu brechen suchen; hier mußte, da die Zahl der Vorgänger auf diesem Gebiete pgo_478.051
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der Poesie über alle Gebiete des Lebens, so daß die Masse des Stoffes eine ebenso ausführliche pgo_478.057
Berücksichtigung, wie sorgfältige Gliederung nöthig macht.

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Daß auch die wissenschaftlichen Bestrebungen, besonders aber die Philosophie, mehr pgo_478.059
in den Vordergrund treten, als es in ähnlichen Literaturwerken der Fall ist, mag seine

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TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
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David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. E478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/500>, abgerufen am 28.04.2024.