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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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streifenden Beiwörtern, wie Homer die "göttlich schöne" Helena und pgo_047.002
Virgil die "pulcherrima Dido?" Lessing führt die Schilderung der pgo_047.003
"bezaubernden Alcina" im "rasenden Roland" an, um zu zeigen, wie pgo_047.004
dies Ausmalen der einzelnen Züge, diese Fülle der hervorgehobenen pgo_047.005
Eigenschaften das Bild zugleich verwischt und erdrückt. Dennoch muß pgo_047.006
er zugeben, daß Einiges in diesem Gemälde dichterisch wirkt, und dies pgo_047.007
Wirksame sind nicht die Formen und Farben, sondern der Reiz, die pgo_047.008
Anmuth, welche, wie wir oben sahen, die Schönheit in Bewegung pgo_047.009
ist. Jn kurzer Formel: der Dichter male die Schönheit als Wirkung pgo_047.010
und male sie durch ihre Wirkung. Als Wirkung geht die Schönheit pgo_047.011
aus der Seele hervor, die in wechselndem Reize um ihre Linien spielt. pgo_047.012
So wenn es von der "Bianka" in meinem Carlo Zeno heißt:

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"Und stets die volle Seele giebt der Blick, pgo_047.014
Begnügt sich nicht mit halbem Offenbaren! pgo_047.015
Unsterblich lebt darin der Kindheit Glück, pgo_047.016
Des Herzens Kindheit ewig unerfahren. pgo_047.017
Nicht Knospen sind die Lippen vollerschlossen pgo_047.018
Und doch von sanften Gluthen übergossen. pgo_047.019
Und wenn ihr holdes Lächeln sich verfangen pgo_047.020
Jn all' den Grübchen zart auf Kinn und Wangen, pgo_047.021
Dann blüht darin ein solcher Lenz der Seele, pgo_047.022
Daß selbst der Schnee des mürr'schen Alters thaut, pgo_047.023
Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut, pgo_047.024
Als ob ein Zauber zwingend ihm befehle."

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Die letzten Zeilen deuten zugleich das zweite an. Homer schildert die pgo_047.026
Helena durch die Wirkung ihrer Schönheit, durch den Eindruck, den sie pgo_047.027
auf die versammelten trojanischen Greise macht, als sie in ihre Mitte pgo_047.028
tritt. Dies Malen durch den psychologischen Reflex ist echt dichterisch pgo_047.029
und dem inneren Element der Phantasie angemessen. Daß die pgo_047.030
Häßlichkeit dagegen eher mit dem stückweisen Aufbau der einzelnen pgo_047.031
Züge in der Poesie geschildert werden kann, daß sie hierin viel weiter pgo_047.032
gehen darf, als die Malerei: das erklärt sich gerade daraus, daß eben die pgo_047.033
Schlagkraft des häßlichen Bildes durch das Nacheinander der Momente pgo_047.034
in der Poesie gemildert wird, während sie durch ihr Nebeneinander in pgo_047.035
der Malerei drastisch hervortritt. Man vergleiche hierüber, was Lessing pgo_047.036
über den Laokoon gesagt.

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Daß Jeder lächelt, wer die Holde schaut, pgo_047.024
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Helena durch die Wirkung ihrer Schönheit, durch den Eindruck, den sie pgo_047.027
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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/69>, abgerufen am 26.04.2024.