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Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858.

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Anregungen für das Gemüth, für die Stimmung des Lyrikers. Ein pgo_069.002
Mairegen, ein Abendsonnenstrahl, ein Gang im Walde können befruchtend pgo_069.003
auf sie einwirken. Die Kunst des Dichters besteht hier darin, Bild pgo_069.004
und Empfindung in eins zu wirken. Darin sind Goethe, Lenau und pgo_069.005
Geibel Meister. Das Naturobject als solches tritt nicht in den Vordergrund; pgo_069.006
aber der Hauch, die Beleuchtung, die malerische Stimmung. pgo_069.007
So ist z. B. das Schilf gewiß ein dürftiger Gegenstand für einen beschreibenden pgo_069.008
Poeten, der uns seine hohen, dicken Halme, seine Rispe, seine silberhaarigen pgo_069.009
Aehrchen botanisch vormalen wollte. Lenau aber in seinen pgo_069.010
"Schilfliedern" versetzt uns "an das öde Schilfgestade," wo das Rohr pgo_069.011
im Winde bebt, läßt bald den Abendstern durch die Binsen und Weiden pgo_069.012
scheinen, bald die Stürme den Teich aufwühlen, die Blitze ihn durchleuchten, pgo_069.013
bald den Mond seine "bleichen Rosen" in den grünen Kranz des pgo_069.014
Schilfes flechten. So beseelt er die Natur und macht sie zum Spiegel pgo_069.015
des Gemüthes. Das Schilfgestade ist hier die melancholische Stätte, pgo_069.016
wie der melancholische Grund des Gemüthes; und wie über jene die pgo_069.017
wechselnden Bilder und Beleuchtungen hinfliehen, so nimmt auch die pgo_069.018
Melancholie des Dichters bald einen sanfteren, wehmuthsvolleren, bald pgo_069.019
einen bewegteren, wilderen Charakter an. Die echte Poesie der "Jahreszeiten" pgo_069.020
findet nur hier ihre Stätte, mag man nun den Frühling mit pgo_069.021
Wilhelm Müller als Bräutigam auftreten lassen oder mit Lenau um pgo_069.022
seinen Tod klagen oder den trennungsschaurigen Odem des Herbstes pgo_069.023
und seine Schwermuth mit Lenau und Geibel besingen. Die "Jahreszeiten" pgo_069.024
werden hier nicht zu selbstständigen Gemälden benutzt, nicht einmal pgo_069.025
zu Arabesken, welche um den Rahmen eines inneren Seelenbildes pgo_069.026
schweifen, sondern sie sind mit diesem innig verschmolzen. Doch auch pgo_069.027
abgesehen von der unmittelbaren Einheit, in welcher die Stimmung der pgo_069.028
Natur und die der Seele verschmelzen, giebt die landschaftliche, überhaupt pgo_069.029
die unorganische Natur einen Reichthum von Bildern her, in denen sich pgo_069.030
das Leben des Geistes spiegelt.

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Der Geist wird ebensowenig durch solche Bilder aus der Natur herabgesetzt, pgo_069.032
wie Bilder des geistigen Lebens zu tadeln sind, wenn sie auf pgo_069.033
die Natur angewendet werden. Grün mag immer den Lenz einen Rebellen pgo_069.034
nennen; er ist, trotz Julian Schmidt, damit in seinem guten Rechte. pgo_069.035
So bleibt die Natur eine reiche Fundgrube für die dichterische Bildersprache,

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Der Geist wird ebensowenig durch solche Bilder aus der Natur herabgesetzt, pgo_069.032
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[69/0091] pgo_069.001 Anregungen für das Gemüth, für die Stimmung des Lyrikers. Ein pgo_069.002 Mairegen, ein Abendsonnenstrahl, ein Gang im Walde können befruchtend pgo_069.003 auf sie einwirken. Die Kunst des Dichters besteht hier darin, Bild pgo_069.004 und Empfindung in eins zu wirken. Darin sind Goethe, Lenau und pgo_069.005 Geibel Meister. Das Naturobject als solches tritt nicht in den Vordergrund; pgo_069.006 aber der Hauch, die Beleuchtung, die malerische Stimmung. pgo_069.007 So ist z. B. das Schilf gewiß ein dürftiger Gegenstand für einen beschreibenden pgo_069.008 Poeten, der uns seine hohen, dicken Halme, seine Rispe, seine silberhaarigen pgo_069.009 Aehrchen botanisch vormalen wollte. Lenau aber in seinen pgo_069.010 „Schilfliedern“ versetzt uns „an das öde Schilfgestade,“ wo das Rohr pgo_069.011 im Winde bebt, läßt bald den Abendstern durch die Binsen und Weiden pgo_069.012 scheinen, bald die Stürme den Teich aufwühlen, die Blitze ihn durchleuchten, pgo_069.013 bald den Mond seine „bleichen Rosen“ in den grünen Kranz des pgo_069.014 Schilfes flechten. So beseelt er die Natur und macht sie zum Spiegel pgo_069.015 des Gemüthes. Das Schilfgestade ist hier die melancholische Stätte, pgo_069.016 wie der melancholische Grund des Gemüthes; und wie über jene die pgo_069.017 wechselnden Bilder und Beleuchtungen hinfliehen, so nimmt auch die pgo_069.018 Melancholie des Dichters bald einen sanfteren, wehmuthsvolleren, bald pgo_069.019 einen bewegteren, wilderen Charakter an. Die echte Poesie der „Jahreszeiten“ pgo_069.020 findet nur hier ihre Stätte, mag man nun den Frühling mit pgo_069.021 Wilhelm Müller als Bräutigam auftreten lassen oder mit Lenau um pgo_069.022 seinen Tod klagen oder den trennungsschaurigen Odem des Herbstes pgo_069.023 und seine Schwermuth mit Lenau und Geibel besingen. Die „Jahreszeiten“ pgo_069.024 werden hier nicht zu selbstständigen Gemälden benutzt, nicht einmal pgo_069.025 zu Arabesken, welche um den Rahmen eines inneren Seelenbildes pgo_069.026 schweifen, sondern sie sind mit diesem innig verschmolzen. Doch auch pgo_069.027 abgesehen von der unmittelbaren Einheit, in welcher die Stimmung der pgo_069.028 Natur und die der Seele verschmelzen, giebt die landschaftliche, überhaupt pgo_069.029 die unorganische Natur einen Reichthum von Bildern her, in denen sich pgo_069.030 das Leben des Geistes spiegelt. pgo_069.031 Der Geist wird ebensowenig durch solche Bilder aus der Natur herabgesetzt, pgo_069.032 wie Bilder des geistigen Lebens zu tadeln sind, wenn sie auf pgo_069.033 die Natur angewendet werden. Grün mag immer den Lenz einen Rebellen pgo_069.034 nennen; er ist, trotz Julian Schmidt, damit in seinem guten Rechte. pgo_069.035 So bleibt die Natur eine reiche Fundgrube für die dichterische Bildersprache,

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Zitationshilfe: Gottschall, Rudolph: Poetik. Die Dichtkunst und ihre Technik [v]om Standpunkte der Neuzeit. Breslau, 1858, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottschall_poetik_1858/91>, abgerufen am 26.04.2024.