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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Dabei kann man freilich sehr oft die Wahrheit verfehlen. Aber die Charakte¬
ristiken Guizot's und Thiers', die Bemcrkunqen über Michel Chevalier, die
deutschen Flüchtlinge, das Communistcnftst u. s. w. sind vortrefflich und über¬
raschend. Daß Gutzkow manchen Eindruck, manche mißverstandene Conversation
leichtsinnig und flüchtig aufgezeichnet hat, darüber könnten wir, hier in Bel¬
gien vielleicht am ersten, uns beklagen. Bon dieser Seite wird Gutzkow selbst
freiwillig sich der Kritik hingeben. Die ganz intuitive Gestaltung dieser Briefe
zeigt, daß ihr Verfasser nur Eindrücke und Ansichten, nicht aber unumstößliche
Behauptungen aufstellen wollte. Wenn ein anderer Kritiker der Allg. Zeitung
breite Auseinandersetzungen von einem Buche verlangt, das nur die Stimmun¬
gen der Gegenwart andeuten und die Anschauungen eines deutschen Schrift¬
stellers schildern soll, der zu dem Glauben berechtigt ist, daß seine Landsleute
sich fürscinUrtheil interessiren, --so hat erden StandpunktdcsNieisendcn verkannt,
Immerhin jedoch liegt eine solche Kritik in dem Kreise einer gewöhnlichen
Polemik, zu der Jedermann berechtigt ist, dessen Erwartungen ein Buch
nicht entspricht. Wenn aber die literarischen Krähwinklcr in ihrer tiefen
Weisheit pfiffig auf die Schnupftabaksdose klopfen, und mit blinzenden Augen zu
verstehen geben, daß diese Gespräche bei den politischen und literarischen Celc-
vritätcn Frankreichs nur eine dramatische Erfindung seinen und Gutzkow eigene.
lich weder Guizot noch Thiers zu Gesichte bekam, weil diese Herren viel zu
sehr beschäftigt sind, um ihre Thüre einem reisenden Schriftsteller zu öffnen;--
dann muß man sich im Stillen fragen: Ist es nicht natürlich, daß man diesen
deutschen Literaten von oben herab so vornehm und geringschätzig begegnet'?
Ihnen, die es nicht verstehen, sich selbst zu achten und die Stellung, die sie in
der Gesellschaft einnehmen sollten, nicht nur nicht zu behaupten, sondern nicht ein¬
mal zu begreifen wissen. Es wäre lächerlich, auf diese Zweifel eine Antwort
zu geben, da es keinem der Berichterstatter aus Paris, er möge das Buch
loben oder tadeln, in den Sinn gekommen ist, in dieser Beziehung Gutzkow
der Unwahrheit zu zeihen. Solche kleingeisterische, krähwinklerische Bedenklich-
keiten können nur im lieben Baterlande entstehen; sie geben einen traurigen
Krankheitszustand unsererVerhältnisse zu erkennen, der so vielen Schriftstellern
das Gefühl ihrer Würde raubt. In der traurigen Gedrücktheit der deutschen
Verhältnisse vergessen sie es, daß sie Mitglieder jener edlen und glänzenden
Klasse der Gesellschaft sind, deren Bewegungen den eigentlichen Maßstab zur
Beurtheilung einer. Ration geben; daß sie jener privilegirten Klasse von
Männern angehören, aus deren Mitte nicht nur Frankreich und England, son¬
dern auch Deutschland einen Theil seiner Staatsminister rccrutirt hat. Ver-


Dabei kann man freilich sehr oft die Wahrheit verfehlen. Aber die Charakte¬
ristiken Guizot's und Thiers', die Bemcrkunqen über Michel Chevalier, die
deutschen Flüchtlinge, das Communistcnftst u. s. w. sind vortrefflich und über¬
raschend. Daß Gutzkow manchen Eindruck, manche mißverstandene Conversation
leichtsinnig und flüchtig aufgezeichnet hat, darüber könnten wir, hier in Bel¬
gien vielleicht am ersten, uns beklagen. Bon dieser Seite wird Gutzkow selbst
freiwillig sich der Kritik hingeben. Die ganz intuitive Gestaltung dieser Briefe
zeigt, daß ihr Verfasser nur Eindrücke und Ansichten, nicht aber unumstößliche
Behauptungen aufstellen wollte. Wenn ein anderer Kritiker der Allg. Zeitung
breite Auseinandersetzungen von einem Buche verlangt, das nur die Stimmun¬
gen der Gegenwart andeuten und die Anschauungen eines deutschen Schrift¬
stellers schildern soll, der zu dem Glauben berechtigt ist, daß seine Landsleute
sich fürscinUrtheil interessiren, —so hat erden StandpunktdcsNieisendcn verkannt,
Immerhin jedoch liegt eine solche Kritik in dem Kreise einer gewöhnlichen
Polemik, zu der Jedermann berechtigt ist, dessen Erwartungen ein Buch
nicht entspricht. Wenn aber die literarischen Krähwinklcr in ihrer tiefen
Weisheit pfiffig auf die Schnupftabaksdose klopfen, und mit blinzenden Augen zu
verstehen geben, daß diese Gespräche bei den politischen und literarischen Celc-
vritätcn Frankreichs nur eine dramatische Erfindung seinen und Gutzkow eigene.
lich weder Guizot noch Thiers zu Gesichte bekam, weil diese Herren viel zu
sehr beschäftigt sind, um ihre Thüre einem reisenden Schriftsteller zu öffnen;—
dann muß man sich im Stillen fragen: Ist es nicht natürlich, daß man diesen
deutschen Literaten von oben herab so vornehm und geringschätzig begegnet'?
Ihnen, die es nicht verstehen, sich selbst zu achten und die Stellung, die sie in
der Gesellschaft einnehmen sollten, nicht nur nicht zu behaupten, sondern nicht ein¬
mal zu begreifen wissen. Es wäre lächerlich, auf diese Zweifel eine Antwort
zu geben, da es keinem der Berichterstatter aus Paris, er möge das Buch
loben oder tadeln, in den Sinn gekommen ist, in dieser Beziehung Gutzkow
der Unwahrheit zu zeihen. Solche kleingeisterische, krähwinklerische Bedenklich-
keiten können nur im lieben Baterlande entstehen; sie geben einen traurigen
Krankheitszustand unsererVerhältnisse zu erkennen, der so vielen Schriftstellern
das Gefühl ihrer Würde raubt. In der traurigen Gedrücktheit der deutschen
Verhältnisse vergessen sie es, daß sie Mitglieder jener edlen und glänzenden
Klasse der Gesellschaft sind, deren Bewegungen den eigentlichen Maßstab zur
Beurtheilung einer. Ration geben; daß sie jener privilegirten Klasse von
Männern angehören, aus deren Mitte nicht nur Frankreich und England, son¬
dern auch Deutschland einen Theil seiner Staatsminister rccrutirt hat. Ver-


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[0535] Dabei kann man freilich sehr oft die Wahrheit verfehlen. Aber die Charakte¬ ristiken Guizot's und Thiers', die Bemcrkunqen über Michel Chevalier, die deutschen Flüchtlinge, das Communistcnftst u. s. w. sind vortrefflich und über¬ raschend. Daß Gutzkow manchen Eindruck, manche mißverstandene Conversation leichtsinnig und flüchtig aufgezeichnet hat, darüber könnten wir, hier in Bel¬ gien vielleicht am ersten, uns beklagen. Bon dieser Seite wird Gutzkow selbst freiwillig sich der Kritik hingeben. Die ganz intuitive Gestaltung dieser Briefe zeigt, daß ihr Verfasser nur Eindrücke und Ansichten, nicht aber unumstößliche Behauptungen aufstellen wollte. Wenn ein anderer Kritiker der Allg. Zeitung breite Auseinandersetzungen von einem Buche verlangt, das nur die Stimmun¬ gen der Gegenwart andeuten und die Anschauungen eines deutschen Schrift¬ stellers schildern soll, der zu dem Glauben berechtigt ist, daß seine Landsleute sich fürscinUrtheil interessiren, —so hat erden StandpunktdcsNieisendcn verkannt, Immerhin jedoch liegt eine solche Kritik in dem Kreise einer gewöhnlichen Polemik, zu der Jedermann berechtigt ist, dessen Erwartungen ein Buch nicht entspricht. Wenn aber die literarischen Krähwinklcr in ihrer tiefen Weisheit pfiffig auf die Schnupftabaksdose klopfen, und mit blinzenden Augen zu verstehen geben, daß diese Gespräche bei den politischen und literarischen Celc- vritätcn Frankreichs nur eine dramatische Erfindung seinen und Gutzkow eigene. lich weder Guizot noch Thiers zu Gesichte bekam, weil diese Herren viel zu sehr beschäftigt sind, um ihre Thüre einem reisenden Schriftsteller zu öffnen;— dann muß man sich im Stillen fragen: Ist es nicht natürlich, daß man diesen deutschen Literaten von oben herab so vornehm und geringschätzig begegnet'? Ihnen, die es nicht verstehen, sich selbst zu achten und die Stellung, die sie in der Gesellschaft einnehmen sollten, nicht nur nicht zu behaupten, sondern nicht ein¬ mal zu begreifen wissen. Es wäre lächerlich, auf diese Zweifel eine Antwort zu geben, da es keinem der Berichterstatter aus Paris, er möge das Buch loben oder tadeln, in den Sinn gekommen ist, in dieser Beziehung Gutzkow der Unwahrheit zu zeihen. Solche kleingeisterische, krähwinklerische Bedenklich- keiten können nur im lieben Baterlande entstehen; sie geben einen traurigen Krankheitszustand unsererVerhältnisse zu erkennen, der so vielen Schriftstellern das Gefühl ihrer Würde raubt. In der traurigen Gedrücktheit der deutschen Verhältnisse vergessen sie es, daß sie Mitglieder jener edlen und glänzenden Klasse der Gesellschaft sind, deren Bewegungen den eigentlichen Maßstab zur Beurtheilung einer. Ration geben; daß sie jener privilegirten Klasse von Männern angehören, aus deren Mitte nicht nur Frankreich und England, son¬ dern auch Deutschland einen Theil seiner Staatsminister rccrutirt hat. Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/535>, abgerufen am 22.05.2024.