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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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die Autorität des Glauben" ausgibt, sind keineswegs auf diesem Wege allein
erlangt worden; sie wurzeln vielmehr im Leben selbst, in den Fortschritten der
allgemeinen Cultur." u. s. w. Ist das nicht die schlagendste Rechtfertigung
der Philosophie? So klage doch Hr. Biedermann das Leben, die moderne
Cultur und vor Allem die Naturwissenschaften an! -- Allein ich glaube, trotz
dieser scheinbaren Widersprüche, Hrn. Biedermann zu verstehen. Es ist nicht
der poetische oder religiöse und überhaupt gemüthliche Schmerz über jene Re¬
sultate der Spekulation- es ist der terroristische Materialismus, der Alles bei
Seite werfen möchte, was nicht unmittelbar praktisch nützt. Er möchte,
das, jener erste Anstoß, den der Trieb nach empirischem Wissen zum freieren
Forschen gab, zu weiter nichts geführt hätte, als zu Industrie, Gewerbthätig-
keit und materiellen Interessen. Wie könnte er sonst so prosaisch fragen -
(S- 27.) "Haben- sich unsere tüchtigsten Naturforscher in den dialektischen
Kämpfen der theologischen Speculation ausgebildet? sind die bewundernswerthen
Fortschritte unserer Industrie, -- unter der Herrschaft und Leitung des philo¬
sophischen Bewußtseins zu Stande gekommen?" -- Es läßt sich erwarten,
daß Hr. or. Biedermann mit der Zeit dieselben Fragen auch an die Poesie
stellen wird; die Poeten und Aesthetiker, welche jetzt mit den Borsechtern des
Materialismus so gern gegen die Philosophie sich verbinden, mögen, sich daher
vorsehen. Ich glaube sogar, daß mit der Zeit in einem Biedermann'sehen
Staate auch dem Christenthum der Aufenthalt gekündigt wird; denn, ohne
an die Positivität desselben zu glauben, es in positiver Gestalt erhalten wollen,
heißt ein politisches Mittel daraus machen; und wenn ein Mittel nicht mehr
verhängt, läßt man es fallen.

Wir unsererseits müssen gestehen: Es ist wahr, die Philosophie hat von
jeher Krieg geführt mit dem Glauben und diesen zuweilen gestürzt, z. B. im
alten Griechenland und Rom, wo sie dadurch dem Christenthum die Bahn
brach, ein Beweis von ihrer welthistorischen Bestimmung. Ein schwacher Christ,
der da fürchtet, daß die Philosophie heute eben so das Christenthum stürzen
könnte! Steht dieses nicht höher als das alte Heidenthum? So viel für
den tlo/ensor ticlei. --

Die Vertreter des Materialismus aber mögen bedenken, daß sie kein Volks"
bcwußtsein, keine Nationalität !c. für ihre Gottheit aufrufen könnten, verhieße
der Materialismus nicht die Erfüllung höherer Forderungen, die uns erst ein
von Poesie und Philosophie angefachtes Culturleben stellen lehrte.




die Autorität des Glauben« ausgibt, sind keineswegs auf diesem Wege allein
erlangt worden; sie wurzeln vielmehr im Leben selbst, in den Fortschritten der
allgemeinen Cultur." u. s. w. Ist das nicht die schlagendste Rechtfertigung
der Philosophie? So klage doch Hr. Biedermann das Leben, die moderne
Cultur und vor Allem die Naturwissenschaften an! — Allein ich glaube, trotz
dieser scheinbaren Widersprüche, Hrn. Biedermann zu verstehen. Es ist nicht
der poetische oder religiöse und überhaupt gemüthliche Schmerz über jene Re¬
sultate der Spekulation- es ist der terroristische Materialismus, der Alles bei
Seite werfen möchte, was nicht unmittelbar praktisch nützt. Er möchte,
das, jener erste Anstoß, den der Trieb nach empirischem Wissen zum freieren
Forschen gab, zu weiter nichts geführt hätte, als zu Industrie, Gewerbthätig-
keit und materiellen Interessen. Wie könnte er sonst so prosaisch fragen -
(S- 27.) „Haben- sich unsere tüchtigsten Naturforscher in den dialektischen
Kämpfen der theologischen Speculation ausgebildet? sind die bewundernswerthen
Fortschritte unserer Industrie, — unter der Herrschaft und Leitung des philo¬
sophischen Bewußtseins zu Stande gekommen?" — Es läßt sich erwarten,
daß Hr. or. Biedermann mit der Zeit dieselben Fragen auch an die Poesie
stellen wird; die Poeten und Aesthetiker, welche jetzt mit den Borsechtern des
Materialismus so gern gegen die Philosophie sich verbinden, mögen, sich daher
vorsehen. Ich glaube sogar, daß mit der Zeit in einem Biedermann'sehen
Staate auch dem Christenthum der Aufenthalt gekündigt wird; denn, ohne
an die Positivität desselben zu glauben, es in positiver Gestalt erhalten wollen,
heißt ein politisches Mittel daraus machen; und wenn ein Mittel nicht mehr
verhängt, läßt man es fallen.

Wir unsererseits müssen gestehen: Es ist wahr, die Philosophie hat von
jeher Krieg geführt mit dem Glauben und diesen zuweilen gestürzt, z. B. im
alten Griechenland und Rom, wo sie dadurch dem Christenthum die Bahn
brach, ein Beweis von ihrer welthistorischen Bestimmung. Ein schwacher Christ,
der da fürchtet, daß die Philosophie heute eben so das Christenthum stürzen
könnte! Steht dieses nicht höher als das alte Heidenthum? So viel für
den tlo/ensor ticlei. —

Die Vertreter des Materialismus aber mögen bedenken, daß sie kein Volks«
bcwußtsein, keine Nationalität !c. für ihre Gottheit aufrufen könnten, verhieße
der Materialismus nicht die Erfüllung höherer Forderungen, die uns erst ein
von Poesie und Philosophie angefachtes Culturleben stellen lehrte.




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[0054] die Autorität des Glauben« ausgibt, sind keineswegs auf diesem Wege allein erlangt worden; sie wurzeln vielmehr im Leben selbst, in den Fortschritten der allgemeinen Cultur." u. s. w. Ist das nicht die schlagendste Rechtfertigung der Philosophie? So klage doch Hr. Biedermann das Leben, die moderne Cultur und vor Allem die Naturwissenschaften an! — Allein ich glaube, trotz dieser scheinbaren Widersprüche, Hrn. Biedermann zu verstehen. Es ist nicht der poetische oder religiöse und überhaupt gemüthliche Schmerz über jene Re¬ sultate der Spekulation- es ist der terroristische Materialismus, der Alles bei Seite werfen möchte, was nicht unmittelbar praktisch nützt. Er möchte, das, jener erste Anstoß, den der Trieb nach empirischem Wissen zum freieren Forschen gab, zu weiter nichts geführt hätte, als zu Industrie, Gewerbthätig- keit und materiellen Interessen. Wie könnte er sonst so prosaisch fragen - (S- 27.) „Haben- sich unsere tüchtigsten Naturforscher in den dialektischen Kämpfen der theologischen Speculation ausgebildet? sind die bewundernswerthen Fortschritte unserer Industrie, — unter der Herrschaft und Leitung des philo¬ sophischen Bewußtseins zu Stande gekommen?" — Es läßt sich erwarten, daß Hr. or. Biedermann mit der Zeit dieselben Fragen auch an die Poesie stellen wird; die Poeten und Aesthetiker, welche jetzt mit den Borsechtern des Materialismus so gern gegen die Philosophie sich verbinden, mögen, sich daher vorsehen. Ich glaube sogar, daß mit der Zeit in einem Biedermann'sehen Staate auch dem Christenthum der Aufenthalt gekündigt wird; denn, ohne an die Positivität desselben zu glauben, es in positiver Gestalt erhalten wollen, heißt ein politisches Mittel daraus machen; und wenn ein Mittel nicht mehr verhängt, läßt man es fallen. Wir unsererseits müssen gestehen: Es ist wahr, die Philosophie hat von jeher Krieg geführt mit dem Glauben und diesen zuweilen gestürzt, z. B. im alten Griechenland und Rom, wo sie dadurch dem Christenthum die Bahn brach, ein Beweis von ihrer welthistorischen Bestimmung. Ein schwacher Christ, der da fürchtet, daß die Philosophie heute eben so das Christenthum stürzen könnte! Steht dieses nicht höher als das alte Heidenthum? So viel für den tlo/ensor ticlei. — Die Vertreter des Materialismus aber mögen bedenken, daß sie kein Volks« bcwußtsein, keine Nationalität !c. für ihre Gottheit aufrufen könnten, verhieße der Materialismus nicht die Erfüllung höherer Forderungen, die uns erst ein von Poesie und Philosophie angefachtes Culturleben stellen lehrte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/54>, abgerufen am 15.06.2024.