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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Uebersicht der lateinischen Sprache des Mittelalters über, woran sich die
zwischen S00 bis 700 fallende Bildung der romanischen schließt. Dies
Idiom zerfällt wieder in das ProvercMche und Wallonische oder nor¬
mannische, welches letztere in der neuentstehenden französischen Sprache
die Oberhand gewinnt, wie auch in dem neuhochdeutschen der nördliche
Stamm' überwiegend geworden ist. So geht die französische Sprache
cillmälig aus Differenzirung und Verschmelzung hervor, und wir dürf¬
ten wohl schon daraus das Harmonische und Ebenmäßige erklären, wel¬
ches dem Sprachlaute unserer Nachbarn einen unläugbaren Vorzug in
so manchem Gebiete der schönen Rede gewährt. Denn im Deutschen
ist der Wohlklang der Rede ein errungener Preis der Kraftanstrengung; der
deutsche Wortlaut klingt wie ein rauschender, aus verwachsenen Felsen
hervorbrechender Quell, während die französische Mundart mehr den
wohlgeleiteten Wassern eines Lustgartens gleicht, wo jede Windung und
jeder Fall ein vorgeschriebenes Maß hat. -- Schon im Entstehen der
Sprache kündet sich der französische Geist an, als: "der gesunde
Sinn, als der auf philosophische und sociale Analyse gegründete Verstand,
welcher sich gerne in gefällige Formen kleidet." Der Charakter der französi¬
schen Literatur besteht nach Baron in Klarheit, logischem und praktischem Ver¬
stand und in Leichtigkeit des Ausdrucks. Diese Bestimmung ist jedoch, für den
Zweck des Literaturhistorikers zu allgemein und formal. Denn wenn
wir darin auch einen anerkannten Grundzug des Volksgeistes finden
müssen, so ist doch damit das eigenthümliche Wesen der schönern Litera¬
tur nicht hinlänglich bezeichnet, da alle jene Eigenschaften ebenso gut auf
die fertigen Arbeiten aller Wissenschaft, wie auf die Schöpfungen des
Genius passen. Es find die angegebenen Dinge an und für sich keine
ästhetischen Elemente, sondern gemeine Erfordernisse jeglicher Produktion,
und es bleibt immer die Frage übrig, was hat die schöne Literatur, was
hat 'insonderheit' die Poesie, qualitativ betrachtet, voraus? Was der


jener Annahme entgegenstellen. -- Unter den deutschen Gelehrten sind Elch-
Horn und Bouterweck keine vollgültigen Gewährsmänner mehr, und gar
über das Nibelungenlied. Die altdeutsche Literatur ist ein ganz neues
Studium bei uns. Gegen die Behauptung, daß im Niebelungenliede kaum,
eine deutliche Spur von Galanterie zu finden, sprechen manche Stellen, wo
die "Degen den Frauen dienen." Doch kann man aus den Niedelungen keinen
Schluß auf urgermanische Sitten machen, weil dies Werk, wenn auch dem
Geiste nach heidnisch und altheroisch, in einer zu späten Zeit feine poetische
Aorm erhalten hat.

Uebersicht der lateinischen Sprache des Mittelalters über, woran sich die
zwischen S00 bis 700 fallende Bildung der romanischen schließt. Dies
Idiom zerfällt wieder in das ProvercMche und Wallonische oder nor¬
mannische, welches letztere in der neuentstehenden französischen Sprache
die Oberhand gewinnt, wie auch in dem neuhochdeutschen der nördliche
Stamm' überwiegend geworden ist. So geht die französische Sprache
cillmälig aus Differenzirung und Verschmelzung hervor, und wir dürf¬
ten wohl schon daraus das Harmonische und Ebenmäßige erklären, wel¬
ches dem Sprachlaute unserer Nachbarn einen unläugbaren Vorzug in
so manchem Gebiete der schönen Rede gewährt. Denn im Deutschen
ist der Wohlklang der Rede ein errungener Preis der Kraftanstrengung; der
deutsche Wortlaut klingt wie ein rauschender, aus verwachsenen Felsen
hervorbrechender Quell, während die französische Mundart mehr den
wohlgeleiteten Wassern eines Lustgartens gleicht, wo jede Windung und
jeder Fall ein vorgeschriebenes Maß hat. — Schon im Entstehen der
Sprache kündet sich der französische Geist an, als: „der gesunde
Sinn, als der auf philosophische und sociale Analyse gegründete Verstand,
welcher sich gerne in gefällige Formen kleidet." Der Charakter der französi¬
schen Literatur besteht nach Baron in Klarheit, logischem und praktischem Ver¬
stand und in Leichtigkeit des Ausdrucks. Diese Bestimmung ist jedoch, für den
Zweck des Literaturhistorikers zu allgemein und formal. Denn wenn
wir darin auch einen anerkannten Grundzug des Volksgeistes finden
müssen, so ist doch damit das eigenthümliche Wesen der schönern Litera¬
tur nicht hinlänglich bezeichnet, da alle jene Eigenschaften ebenso gut auf
die fertigen Arbeiten aller Wissenschaft, wie auf die Schöpfungen des
Genius passen. Es find die angegebenen Dinge an und für sich keine
ästhetischen Elemente, sondern gemeine Erfordernisse jeglicher Produktion,
und es bleibt immer die Frage übrig, was hat die schöne Literatur, was
hat 'insonderheit' die Poesie, qualitativ betrachtet, voraus? Was der


jener Annahme entgegenstellen. — Unter den deutschen Gelehrten sind Elch-
Horn und Bouterweck keine vollgültigen Gewährsmänner mehr, und gar
über das Nibelungenlied. Die altdeutsche Literatur ist ein ganz neues
Studium bei uns. Gegen die Behauptung, daß im Niebelungenliede kaum,
eine deutliche Spur von Galanterie zu finden, sprechen manche Stellen, wo
die „Degen den Frauen dienen." Doch kann man aus den Niedelungen keinen
Schluß auf urgermanische Sitten machen, weil dies Werk, wenn auch dem
Geiste nach heidnisch und altheroisch, in einer zu späten Zeit feine poetische
Aorm erhalten hat.
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[0221] Uebersicht der lateinischen Sprache des Mittelalters über, woran sich die zwischen S00 bis 700 fallende Bildung der romanischen schließt. Dies Idiom zerfällt wieder in das ProvercMche und Wallonische oder nor¬ mannische, welches letztere in der neuentstehenden französischen Sprache die Oberhand gewinnt, wie auch in dem neuhochdeutschen der nördliche Stamm' überwiegend geworden ist. So geht die französische Sprache cillmälig aus Differenzirung und Verschmelzung hervor, und wir dürf¬ ten wohl schon daraus das Harmonische und Ebenmäßige erklären, wel¬ ches dem Sprachlaute unserer Nachbarn einen unläugbaren Vorzug in so manchem Gebiete der schönen Rede gewährt. Denn im Deutschen ist der Wohlklang der Rede ein errungener Preis der Kraftanstrengung; der deutsche Wortlaut klingt wie ein rauschender, aus verwachsenen Felsen hervorbrechender Quell, während die französische Mundart mehr den wohlgeleiteten Wassern eines Lustgartens gleicht, wo jede Windung und jeder Fall ein vorgeschriebenes Maß hat. — Schon im Entstehen der Sprache kündet sich der französische Geist an, als: „der gesunde Sinn, als der auf philosophische und sociale Analyse gegründete Verstand, welcher sich gerne in gefällige Formen kleidet." Der Charakter der französi¬ schen Literatur besteht nach Baron in Klarheit, logischem und praktischem Ver¬ stand und in Leichtigkeit des Ausdrucks. Diese Bestimmung ist jedoch, für den Zweck des Literaturhistorikers zu allgemein und formal. Denn wenn wir darin auch einen anerkannten Grundzug des Volksgeistes finden müssen, so ist doch damit das eigenthümliche Wesen der schönern Litera¬ tur nicht hinlänglich bezeichnet, da alle jene Eigenschaften ebenso gut auf die fertigen Arbeiten aller Wissenschaft, wie auf die Schöpfungen des Genius passen. Es find die angegebenen Dinge an und für sich keine ästhetischen Elemente, sondern gemeine Erfordernisse jeglicher Produktion, und es bleibt immer die Frage übrig, was hat die schöne Literatur, was hat 'insonderheit' die Poesie, qualitativ betrachtet, voraus? Was der jener Annahme entgegenstellen. — Unter den deutschen Gelehrten sind Elch- Horn und Bouterweck keine vollgültigen Gewährsmänner mehr, und gar über das Nibelungenlied. Die altdeutsche Literatur ist ein ganz neues Studium bei uns. Gegen die Behauptung, daß im Niebelungenliede kaum, eine deutliche Spur von Galanterie zu finden, sprechen manche Stellen, wo die „Degen den Frauen dienen." Doch kann man aus den Niedelungen keinen Schluß auf urgermanische Sitten machen, weil dies Werk, wenn auch dem Geiste nach heidnisch und altheroisch, in einer zu späten Zeit feine poetische Aorm erhalten hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/221>, abgerufen am 17.06.2024.