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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Stillen, auf welche Gaben und Kräfte der Seele wohl vorzugs¬
weise dieses Talent sich gründe? Der Geist war es nicht allein, die
Güte allein auch nicht, sogar die Vereinigung von beiden schien nicht
gerade diese besondern, eigenthümlichen Wirkungen hervorbringen zu
müssen. Einigen Aufschluß gab mir die Wahrnehmung, die sich mir
plötzlich darbot; ich glaubte nämlich zu entdecken, daß ein großer Theil
der geselligen Stärke dieser Frau darin liege, daß die Menschen,
welche sie sah, ihr nicht wesenlose Schatten waren, sondern daß jeder,
wenigstens für den Augenblick, ihr ein wirkliches Interesse darbot,
und nicht nur ein allgemein menschliches, sondern auch ein individuel¬
les, was freilich nur durch Einsicht und Eingehen in das Wesen
jedes Einzelnen möglich war. Eine eben so gütige als blitzschnelle
Menschenkenntniß gab ihr die Leichtigkeit, an jedem Menschen auf
der Stelle seine vortheilhafte Seite zu finden, die sie dann zum Lichte
hervorzuwendcn und zu beleben wußte, wodurch die unvortheilhaften
Seiten von selbst im Schatten blieben. Sie hatte auf diese Weise
mit jedem einzelnen eine persönliche Beziehung, stand mit ihm auf
irgend einem Punkt in echtem Verhältniß, das natürlich in den man-
nichfachsten Richtungen und Graden sich schied und abstufte. Hier
war also ein wirkliches Zusammensein, keine blos hergebrachte leer"
Form, und das Wesentliche ist immer fruchtbar. Mit ihrem Willen
war es nie, daß irgend Jemand, sei es Mann oder Frau, sich als
leere GesellschaftSdccoration, als leblose Salonkaryatide hielt; dagegen
ich in anderen Kreisen oft gesehen, daß, weil die Leute mit ihren
Wirthen eigentlich durch Nichts zusammenhingen, Nichts mit ihnen
gemein hatten, sogar die sonst bedeutendsten Menschen nutzlos gleich
den geringsten zu bloßer Zimmerfüllung dienten.

Gans konnte nicht lange reden, ohne wieder in die Politik zu
gerathen, und die Sachen in Frankreich standen allerdings in so
wichtiger Krisis, daß Jedermann die Spannung theilte, wie der Zu¬
schauer eines Dramas, das seiner Katastrophe entgegeneile. Man
erörterte die Hoffnungen des Hofes, das Begehren der Nation und
wog die Kräfte beider gegen einander ab. Gans besprach mit Heller
Sachkenntniß die Stellung der französischen Kammern, der Gerichts¬
höfe, der Minister und der Verwaltungsbehörden; er hoffte das Beste
von den Gerichten und meinte, der Hof werde bei deren Widerstande
nicht weiter gehen. Aber dieser Ansicht stellten sich andre entgegen.


Stillen, auf welche Gaben und Kräfte der Seele wohl vorzugs¬
weise dieses Talent sich gründe? Der Geist war es nicht allein, die
Güte allein auch nicht, sogar die Vereinigung von beiden schien nicht
gerade diese besondern, eigenthümlichen Wirkungen hervorbringen zu
müssen. Einigen Aufschluß gab mir die Wahrnehmung, die sich mir
plötzlich darbot; ich glaubte nämlich zu entdecken, daß ein großer Theil
der geselligen Stärke dieser Frau darin liege, daß die Menschen,
welche sie sah, ihr nicht wesenlose Schatten waren, sondern daß jeder,
wenigstens für den Augenblick, ihr ein wirkliches Interesse darbot,
und nicht nur ein allgemein menschliches, sondern auch ein individuel¬
les, was freilich nur durch Einsicht und Eingehen in das Wesen
jedes Einzelnen möglich war. Eine eben so gütige als blitzschnelle
Menschenkenntniß gab ihr die Leichtigkeit, an jedem Menschen auf
der Stelle seine vortheilhafte Seite zu finden, die sie dann zum Lichte
hervorzuwendcn und zu beleben wußte, wodurch die unvortheilhaften
Seiten von selbst im Schatten blieben. Sie hatte auf diese Weise
mit jedem einzelnen eine persönliche Beziehung, stand mit ihm auf
irgend einem Punkt in echtem Verhältniß, das natürlich in den man-
nichfachsten Richtungen und Graden sich schied und abstufte. Hier
war also ein wirkliches Zusammensein, keine blos hergebrachte leer«
Form, und das Wesentliche ist immer fruchtbar. Mit ihrem Willen
war es nie, daß irgend Jemand, sei es Mann oder Frau, sich als
leere GesellschaftSdccoration, als leblose Salonkaryatide hielt; dagegen
ich in anderen Kreisen oft gesehen, daß, weil die Leute mit ihren
Wirthen eigentlich durch Nichts zusammenhingen, Nichts mit ihnen
gemein hatten, sogar die sonst bedeutendsten Menschen nutzlos gleich
den geringsten zu bloßer Zimmerfüllung dienten.

Gans konnte nicht lange reden, ohne wieder in die Politik zu
gerathen, und die Sachen in Frankreich standen allerdings in so
wichtiger Krisis, daß Jedermann die Spannung theilte, wie der Zu¬
schauer eines Dramas, das seiner Katastrophe entgegeneile. Man
erörterte die Hoffnungen des Hofes, das Begehren der Nation und
wog die Kräfte beider gegen einander ab. Gans besprach mit Heller
Sachkenntniß die Stellung der französischen Kammern, der Gerichts¬
höfe, der Minister und der Verwaltungsbehörden; er hoffte das Beste
von den Gerichten und meinte, der Hof werde bei deren Widerstande
nicht weiter gehen. Aber dieser Ansicht stellten sich andre entgegen.


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[0215] Stillen, auf welche Gaben und Kräfte der Seele wohl vorzugs¬ weise dieses Talent sich gründe? Der Geist war es nicht allein, die Güte allein auch nicht, sogar die Vereinigung von beiden schien nicht gerade diese besondern, eigenthümlichen Wirkungen hervorbringen zu müssen. Einigen Aufschluß gab mir die Wahrnehmung, die sich mir plötzlich darbot; ich glaubte nämlich zu entdecken, daß ein großer Theil der geselligen Stärke dieser Frau darin liege, daß die Menschen, welche sie sah, ihr nicht wesenlose Schatten waren, sondern daß jeder, wenigstens für den Augenblick, ihr ein wirkliches Interesse darbot, und nicht nur ein allgemein menschliches, sondern auch ein individuel¬ les, was freilich nur durch Einsicht und Eingehen in das Wesen jedes Einzelnen möglich war. Eine eben so gütige als blitzschnelle Menschenkenntniß gab ihr die Leichtigkeit, an jedem Menschen auf der Stelle seine vortheilhafte Seite zu finden, die sie dann zum Lichte hervorzuwendcn und zu beleben wußte, wodurch die unvortheilhaften Seiten von selbst im Schatten blieben. Sie hatte auf diese Weise mit jedem einzelnen eine persönliche Beziehung, stand mit ihm auf irgend einem Punkt in echtem Verhältniß, das natürlich in den man- nichfachsten Richtungen und Graden sich schied und abstufte. Hier war also ein wirkliches Zusammensein, keine blos hergebrachte leer« Form, und das Wesentliche ist immer fruchtbar. Mit ihrem Willen war es nie, daß irgend Jemand, sei es Mann oder Frau, sich als leere GesellschaftSdccoration, als leblose Salonkaryatide hielt; dagegen ich in anderen Kreisen oft gesehen, daß, weil die Leute mit ihren Wirthen eigentlich durch Nichts zusammenhingen, Nichts mit ihnen gemein hatten, sogar die sonst bedeutendsten Menschen nutzlos gleich den geringsten zu bloßer Zimmerfüllung dienten. Gans konnte nicht lange reden, ohne wieder in die Politik zu gerathen, und die Sachen in Frankreich standen allerdings in so wichtiger Krisis, daß Jedermann die Spannung theilte, wie der Zu¬ schauer eines Dramas, das seiner Katastrophe entgegeneile. Man erörterte die Hoffnungen des Hofes, das Begehren der Nation und wog die Kräfte beider gegen einander ab. Gans besprach mit Heller Sachkenntniß die Stellung der französischen Kammern, der Gerichts¬ höfe, der Minister und der Verwaltungsbehörden; er hoffte das Beste von den Gerichten und meinte, der Hof werde bei deren Widerstande nicht weiter gehen. Aber dieser Ansicht stellten sich andre entgegen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/215>, abgerufen am 17.06.2024.