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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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stundenlang an demselben Tische neben einander sitzen, sind vielleicht
Beide ohne Gesellschaft, gähnen und langweilen sich Beide, und es
wird ihnen doch nicht einfallen, sich gegenseitig zu nähern. So kalt
und gemessen als möglich steht der Eine dem Andern gegenüber und
sieht den Fremden, der sich vielleicht freundlich ihm nähern will, mit
mißtrauischem Auge an; es ist dies so ein Stück Pvlizeigeist, der
jeden Unbekannten von vorn herein gleich für einen Beutelschneider,
Betrüger oder Dieb hält und einen unverzeihlicher Mangel an aller
öffentlichen Gastfreundschaft erzeugt.

Wir haben eS für nöthig gefunden, diese kurze einleitende Be¬
merkung der hier folgenden Erzählung voranzuschicken. Dieselbe
ist dem Tagebuche eines Freundes entnommen, der, durch sein
erstes Mißbehagen an Berlin gerade in weniger allgemein bekannte
Kreise der Hauptstadt getrieben, in eine Menge interessanter Ge¬
schichten eingeweiht worden ist, von denen wir die nachfolgende, wie
wir sie aus seinen skizzenhaften Aufzeichnungen zusammengetragen, hier
mittheilen wollen.




Es war im Spätherbste des Jahres 1838, als ich zum ersten
Male nach Berlin kam. So großartig in den ersten Tagen der
Anblick der prächtigen Stadt auf mich wirkte, so fühlte ich mich doch
bald unwohl unter diesen ungeheuren Steinmassen, in diesen gerad-
linigem, weiten Straßen mit ihrem ohrzerreißenden Geräusch und
Getöse, diesem ewig lärmenden Menschengewühl, aus dem kein freund¬
lich bekanntes Gesicht mir entgegenblickte. Die Jahreszeit so wie der
durch den unaufhörlichen Hcrbstregen noch vermehrte Koth und
Schmutz auf den Straßen, all die unzähligen kleinen Unannehmlich¬
keiten des Berliner Winters trugen nur dazu bei, meinen aufkeimen¬
den Unmuth zu erhöhen und so sah ich mich denn, nach dem ersten
überraschenden Eindruck, allein und verlassen unter mehr als dreimal-
hunderttausend Menschen, deren Leben und Treiben ich nicht ver¬
stand und von denen ich noch Nichts gesehen hatte, als ihr trockenes,
verständiges, habsüchtiges Wesen und ihre gleichgiltigen, höhnischen,
prätentiösen Gesichter. Ich hatte mich noch nie so durch und durch
unglücklich gefühlt. Ein Landsmann, der sich mehrere Monate hier
aufgehalten, hatte mir sein freundlich meublirtes, aber etwas düsteres
Zimmer in der Aleranderstraße abgetreten und mir die Wirthsleute


stundenlang an demselben Tische neben einander sitzen, sind vielleicht
Beide ohne Gesellschaft, gähnen und langweilen sich Beide, und es
wird ihnen doch nicht einfallen, sich gegenseitig zu nähern. So kalt
und gemessen als möglich steht der Eine dem Andern gegenüber und
sieht den Fremden, der sich vielleicht freundlich ihm nähern will, mit
mißtrauischem Auge an; es ist dies so ein Stück Pvlizeigeist, der
jeden Unbekannten von vorn herein gleich für einen Beutelschneider,
Betrüger oder Dieb hält und einen unverzeihlicher Mangel an aller
öffentlichen Gastfreundschaft erzeugt.

Wir haben eS für nöthig gefunden, diese kurze einleitende Be¬
merkung der hier folgenden Erzählung voranzuschicken. Dieselbe
ist dem Tagebuche eines Freundes entnommen, der, durch sein
erstes Mißbehagen an Berlin gerade in weniger allgemein bekannte
Kreise der Hauptstadt getrieben, in eine Menge interessanter Ge¬
schichten eingeweiht worden ist, von denen wir die nachfolgende, wie
wir sie aus seinen skizzenhaften Aufzeichnungen zusammengetragen, hier
mittheilen wollen.




Es war im Spätherbste des Jahres 1838, als ich zum ersten
Male nach Berlin kam. So großartig in den ersten Tagen der
Anblick der prächtigen Stadt auf mich wirkte, so fühlte ich mich doch
bald unwohl unter diesen ungeheuren Steinmassen, in diesen gerad-
linigem, weiten Straßen mit ihrem ohrzerreißenden Geräusch und
Getöse, diesem ewig lärmenden Menschengewühl, aus dem kein freund¬
lich bekanntes Gesicht mir entgegenblickte. Die Jahreszeit so wie der
durch den unaufhörlichen Hcrbstregen noch vermehrte Koth und
Schmutz auf den Straßen, all die unzähligen kleinen Unannehmlich¬
keiten des Berliner Winters trugen nur dazu bei, meinen aufkeimen¬
den Unmuth zu erhöhen und so sah ich mich denn, nach dem ersten
überraschenden Eindruck, allein und verlassen unter mehr als dreimal-
hunderttausend Menschen, deren Leben und Treiben ich nicht ver¬
stand und von denen ich noch Nichts gesehen hatte, als ihr trockenes,
verständiges, habsüchtiges Wesen und ihre gleichgiltigen, höhnischen,
prätentiösen Gesichter. Ich hatte mich noch nie so durch und durch
unglücklich gefühlt. Ein Landsmann, der sich mehrere Monate hier
aufgehalten, hatte mir sein freundlich meublirtes, aber etwas düsteres
Zimmer in der Aleranderstraße abgetreten und mir die Wirthsleute


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[0238] stundenlang an demselben Tische neben einander sitzen, sind vielleicht Beide ohne Gesellschaft, gähnen und langweilen sich Beide, und es wird ihnen doch nicht einfallen, sich gegenseitig zu nähern. So kalt und gemessen als möglich steht der Eine dem Andern gegenüber und sieht den Fremden, der sich vielleicht freundlich ihm nähern will, mit mißtrauischem Auge an; es ist dies so ein Stück Pvlizeigeist, der jeden Unbekannten von vorn herein gleich für einen Beutelschneider, Betrüger oder Dieb hält und einen unverzeihlicher Mangel an aller öffentlichen Gastfreundschaft erzeugt. Wir haben eS für nöthig gefunden, diese kurze einleitende Be¬ merkung der hier folgenden Erzählung voranzuschicken. Dieselbe ist dem Tagebuche eines Freundes entnommen, der, durch sein erstes Mißbehagen an Berlin gerade in weniger allgemein bekannte Kreise der Hauptstadt getrieben, in eine Menge interessanter Ge¬ schichten eingeweiht worden ist, von denen wir die nachfolgende, wie wir sie aus seinen skizzenhaften Aufzeichnungen zusammengetragen, hier mittheilen wollen. Es war im Spätherbste des Jahres 1838, als ich zum ersten Male nach Berlin kam. So großartig in den ersten Tagen der Anblick der prächtigen Stadt auf mich wirkte, so fühlte ich mich doch bald unwohl unter diesen ungeheuren Steinmassen, in diesen gerad- linigem, weiten Straßen mit ihrem ohrzerreißenden Geräusch und Getöse, diesem ewig lärmenden Menschengewühl, aus dem kein freund¬ lich bekanntes Gesicht mir entgegenblickte. Die Jahreszeit so wie der durch den unaufhörlichen Hcrbstregen noch vermehrte Koth und Schmutz auf den Straßen, all die unzähligen kleinen Unannehmlich¬ keiten des Berliner Winters trugen nur dazu bei, meinen aufkeimen¬ den Unmuth zu erhöhen und so sah ich mich denn, nach dem ersten überraschenden Eindruck, allein und verlassen unter mehr als dreimal- hunderttausend Menschen, deren Leben und Treiben ich nicht ver¬ stand und von denen ich noch Nichts gesehen hatte, als ihr trockenes, verständiges, habsüchtiges Wesen und ihre gleichgiltigen, höhnischen, prätentiösen Gesichter. Ich hatte mich noch nie so durch und durch unglücklich gefühlt. Ein Landsmann, der sich mehrere Monate hier aufgehalten, hatte mir sein freundlich meublirtes, aber etwas düsteres Zimmer in der Aleranderstraße abgetreten und mir die Wirthsleute

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/238>, abgerufen am 17.06.2024.