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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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als brave, redliche Menschen empfohlen. Doch obwohl ich schon
vierzehn Tage da wohnte, hatte ich von ihnen Nichts gesehen, als
die Firma an ihrer Thür: "Thümmel, Damenkleidermacher" und
Madame Thümmel -- eine lange, hagre, schon etwas ältliche Frau,
deren verdrüßlichen Ernst ich mit aller Freundlichkeit nicht besiegen
konnte -- täglich zweimal mit einem kurzen guten Morgen und gu¬
ten Abend. Keiner bekümmerte sich um mich (eigentlich eine Eigen¬
schaft Berliner Wirthsleute, die man später schätzen lernt), oder er¬
kundigte sich, ob ich etwas bedürfe, und da saß ich denn ganze Tage
und Abende allein, las und studirte und betrachtete zur Abwechslung
die Droschken auf dem Platze oder das große schwarze Gefängni߬
gebäude (das Arbeitshaus, Ochsenkopf genannt) schräg gegenüber.
Aus den öffentlichen Vergnügungsorten und den Theatern hatte mich
eine mir jetzt unerklärliche Langeweile fortgetrieben, und Bekannte, die
ich hätte besuchen können, hatte ich noch nicht. Ich war also an das
Zimmer gefesselt und konnte nur tausendmal bereuen, nach Berlin ge¬
gangen zu sein und in langen Briefen an meine Freunde meinem
gequälten Herzen Luft machen. Ich ermahnte sie förmlich, ja nie
hierher zu kommen, in dies weite, steinerne Grab, in diese große
Welt, aus der Einem der kalte Hauch des Todes entgegenwehe.

So zurückgeschreckt und eingeschüchtert, hatte ich es gar nicht
der Mühe werth gehalten oder vielmehr nicht gewagt, noch speciellere
Erfahrungen zu machen, und daher in meinem Unmuth alle mitge¬
brachten Empfehlungsbriefe an Familien, Gelehrte, Künstler und Pro"
fessoren bei Seite geworfen. Als ich mir jedoch eines Morgens
meine fatale Lage lebhaft vorstellte, ermannte ich mich endlich zu dem
Entschlüsse, sie wieder hervorzuholen, den ersten besten blindlings zu
ergreifen und einen Versuch damit zu wagen; ich war fest entschlos¬
sen, mir von heute an Berlin zu einem erträglichen Aufenthalt zu
machen oder in der nächsten Woche abzureisen. Der Brief war an
den Rentier C. Als eS zwölf Uhr war, setzte ich mich, lionmäßig
gekleidet, in eine Droschke und fuhr an dem Hause des Rentiers
vor. Die barsche Frage des Portiers: "wohin wollen Sie?"
so wie die vornehme Malice im Gesicht des Bedienten, der mich
meldete, ftappirten mich schon etwas. Doch trat ich muthig ein und
wurde von Herrn und Madame C. in einem höchst eleganten, von
allerhand Parfümen duftenden Zimmer mit feierlicher Artigkeit em-


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als brave, redliche Menschen empfohlen. Doch obwohl ich schon
vierzehn Tage da wohnte, hatte ich von ihnen Nichts gesehen, als
die Firma an ihrer Thür: „Thümmel, Damenkleidermacher" und
Madame Thümmel — eine lange, hagre, schon etwas ältliche Frau,
deren verdrüßlichen Ernst ich mit aller Freundlichkeit nicht besiegen
konnte — täglich zweimal mit einem kurzen guten Morgen und gu¬
ten Abend. Keiner bekümmerte sich um mich (eigentlich eine Eigen¬
schaft Berliner Wirthsleute, die man später schätzen lernt), oder er¬
kundigte sich, ob ich etwas bedürfe, und da saß ich denn ganze Tage
und Abende allein, las und studirte und betrachtete zur Abwechslung
die Droschken auf dem Platze oder das große schwarze Gefängni߬
gebäude (das Arbeitshaus, Ochsenkopf genannt) schräg gegenüber.
Aus den öffentlichen Vergnügungsorten und den Theatern hatte mich
eine mir jetzt unerklärliche Langeweile fortgetrieben, und Bekannte, die
ich hätte besuchen können, hatte ich noch nicht. Ich war also an das
Zimmer gefesselt und konnte nur tausendmal bereuen, nach Berlin ge¬
gangen zu sein und in langen Briefen an meine Freunde meinem
gequälten Herzen Luft machen. Ich ermahnte sie förmlich, ja nie
hierher zu kommen, in dies weite, steinerne Grab, in diese große
Welt, aus der Einem der kalte Hauch des Todes entgegenwehe.

So zurückgeschreckt und eingeschüchtert, hatte ich es gar nicht
der Mühe werth gehalten oder vielmehr nicht gewagt, noch speciellere
Erfahrungen zu machen, und daher in meinem Unmuth alle mitge¬
brachten Empfehlungsbriefe an Familien, Gelehrte, Künstler und Pro«
fessoren bei Seite geworfen. Als ich mir jedoch eines Morgens
meine fatale Lage lebhaft vorstellte, ermannte ich mich endlich zu dem
Entschlüsse, sie wieder hervorzuholen, den ersten besten blindlings zu
ergreifen und einen Versuch damit zu wagen; ich war fest entschlos¬
sen, mir von heute an Berlin zu einem erträglichen Aufenthalt zu
machen oder in der nächsten Woche abzureisen. Der Brief war an
den Rentier C. Als eS zwölf Uhr war, setzte ich mich, lionmäßig
gekleidet, in eine Droschke und fuhr an dem Hause des Rentiers
vor. Die barsche Frage des Portiers: „wohin wollen Sie?"
so wie die vornehme Malice im Gesicht des Bedienten, der mich
meldete, ftappirten mich schon etwas. Doch trat ich muthig ein und
wurde von Herrn und Madame C. in einem höchst eleganten, von
allerhand Parfümen duftenden Zimmer mit feierlicher Artigkeit em-


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[0239] als brave, redliche Menschen empfohlen. Doch obwohl ich schon vierzehn Tage da wohnte, hatte ich von ihnen Nichts gesehen, als die Firma an ihrer Thür: „Thümmel, Damenkleidermacher" und Madame Thümmel — eine lange, hagre, schon etwas ältliche Frau, deren verdrüßlichen Ernst ich mit aller Freundlichkeit nicht besiegen konnte — täglich zweimal mit einem kurzen guten Morgen und gu¬ ten Abend. Keiner bekümmerte sich um mich (eigentlich eine Eigen¬ schaft Berliner Wirthsleute, die man später schätzen lernt), oder er¬ kundigte sich, ob ich etwas bedürfe, und da saß ich denn ganze Tage und Abende allein, las und studirte und betrachtete zur Abwechslung die Droschken auf dem Platze oder das große schwarze Gefängni߬ gebäude (das Arbeitshaus, Ochsenkopf genannt) schräg gegenüber. Aus den öffentlichen Vergnügungsorten und den Theatern hatte mich eine mir jetzt unerklärliche Langeweile fortgetrieben, und Bekannte, die ich hätte besuchen können, hatte ich noch nicht. Ich war also an das Zimmer gefesselt und konnte nur tausendmal bereuen, nach Berlin ge¬ gangen zu sein und in langen Briefen an meine Freunde meinem gequälten Herzen Luft machen. Ich ermahnte sie förmlich, ja nie hierher zu kommen, in dies weite, steinerne Grab, in diese große Welt, aus der Einem der kalte Hauch des Todes entgegenwehe. So zurückgeschreckt und eingeschüchtert, hatte ich es gar nicht der Mühe werth gehalten oder vielmehr nicht gewagt, noch speciellere Erfahrungen zu machen, und daher in meinem Unmuth alle mitge¬ brachten Empfehlungsbriefe an Familien, Gelehrte, Künstler und Pro« fessoren bei Seite geworfen. Als ich mir jedoch eines Morgens meine fatale Lage lebhaft vorstellte, ermannte ich mich endlich zu dem Entschlüsse, sie wieder hervorzuholen, den ersten besten blindlings zu ergreifen und einen Versuch damit zu wagen; ich war fest entschlos¬ sen, mir von heute an Berlin zu einem erträglichen Aufenthalt zu machen oder in der nächsten Woche abzureisen. Der Brief war an den Rentier C. Als eS zwölf Uhr war, setzte ich mich, lionmäßig gekleidet, in eine Droschke und fuhr an dem Hause des Rentiers vor. Die barsche Frage des Portiers: „wohin wollen Sie?" so wie die vornehme Malice im Gesicht des Bedienten, der mich meldete, ftappirten mich schon etwas. Doch trat ich muthig ein und wurde von Herrn und Madame C. in einem höchst eleganten, von allerhand Parfümen duftenden Zimmer mit feierlicher Artigkeit em- 31»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/239>, abgerufen am 17.06.2024.