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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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ärmlichen Hofwohnungcn, während ich dort in jenem glänzenden Zir¬
kel nur häßliche, verkümmerte Gesichter sah! Auch in der einfachen
Kleidung der Mutter bemerkte ich eine edle Reinlichkeit und in ihrem
Gesicht und Wesen eine Anmuth, die das Alter noch nicht ganz ver¬
wischt hatte. Als der Schlüssel längst gefunden war, konnte ich mich
noch immer nicht trennen; ein begonnenes Gespräch mit Herrn und
Madame Thümmel entschuldigte mein Bleiben. Die Leute erzählten
mir von ihren Verhältnissen; wie ihre Arbeit sonst besser gegangen,
wie sie nicht hätten nöthig gehabt, zu vermiethen, wie sie unter der
überaus gehäuften Concurrenz leiden und alle ihre Kräfte anstrengen
müßten, nur durchzukommen; daß Charlotte und Therese, die beiden
ältern Töchter, dem Vater helfen müßten und Auguste (Juste ge¬
nannt) in einem Putzgeschäft arbeite, von wo sie des Abends um
sieben Uhr zurückkehre, um die Ihrigen noch einige Stunden bei der
Arbeit zu unterstützen, die so schlecht bezahlt werde. Die Mädchen
schwiegen natürlich bei diesen Erzählungen bescheiden still und ant¬
worteten auf meine wenigen Fragen kurz und nett. Als es schon
längst zwölf Uhr war, empfahl ich mich erst und. ich kann wohl sa¬
gen, daß ich in dieser armen Familie meine erste gemüthliche Stunde
in Berlin verlebte. Von nun an wurde ich nach und nach ihr täg¬
licher Gast, Vertrauter und Freund. Die Alten wurden mir immer
gewogener und auch die Mädchen mit der Zeit unbefangener, so daß
ich jetzt den Genuß hatte, den besondern Reiz und die Liebenswür¬
digkeit ihres Wesens freier hervortreten zu sehen. Besonders war
mir Charlotte in ihrer einfachen Familienumgebung eine fesselnde Er¬
scheinung ; eine hohe, schlanke Gestalt mit reichem dunklem Haar und
glühendem Auge, stets ernst bescheiden und von einem innern Werthe,
den die reichen Damen, denen sie die neuen Kleider anprobirte, wohl
kaum in ihr vermutheten. Die Lectüre guter Bücher, von ihren er¬
sparten Groschen aus der Leihbibliothek bezogen, war in ihren weni¬
gen Mußestunden ihre einzige Erholung, und ich hatte oft genug
Ursache, mich über ihren Geschmack und über manches richtige Ur¬
theil, das ich von ihr hörte, zu wundern. Sie wußte, wie die mei¬
sten Berlinerinnen, gut und gewandt zu sprechen, aber in dem Ton
ihrer Stimme so wie in ihrer ganzen Art und Weise lag ein gewis¬
ser Stolz, der fast wie Kälte aussah, wenn nicht ihr Blick und ihre
bewegten Züge die innern Regungen eines leidenschaftlichen Gemüths


ärmlichen Hofwohnungcn, während ich dort in jenem glänzenden Zir¬
kel nur häßliche, verkümmerte Gesichter sah! Auch in der einfachen
Kleidung der Mutter bemerkte ich eine edle Reinlichkeit und in ihrem
Gesicht und Wesen eine Anmuth, die das Alter noch nicht ganz ver¬
wischt hatte. Als der Schlüssel längst gefunden war, konnte ich mich
noch immer nicht trennen; ein begonnenes Gespräch mit Herrn und
Madame Thümmel entschuldigte mein Bleiben. Die Leute erzählten
mir von ihren Verhältnissen; wie ihre Arbeit sonst besser gegangen,
wie sie nicht hätten nöthig gehabt, zu vermiethen, wie sie unter der
überaus gehäuften Concurrenz leiden und alle ihre Kräfte anstrengen
müßten, nur durchzukommen; daß Charlotte und Therese, die beiden
ältern Töchter, dem Vater helfen müßten und Auguste (Juste ge¬
nannt) in einem Putzgeschäft arbeite, von wo sie des Abends um
sieben Uhr zurückkehre, um die Ihrigen noch einige Stunden bei der
Arbeit zu unterstützen, die so schlecht bezahlt werde. Die Mädchen
schwiegen natürlich bei diesen Erzählungen bescheiden still und ant¬
worteten auf meine wenigen Fragen kurz und nett. Als es schon
längst zwölf Uhr war, empfahl ich mich erst und. ich kann wohl sa¬
gen, daß ich in dieser armen Familie meine erste gemüthliche Stunde
in Berlin verlebte. Von nun an wurde ich nach und nach ihr täg¬
licher Gast, Vertrauter und Freund. Die Alten wurden mir immer
gewogener und auch die Mädchen mit der Zeit unbefangener, so daß
ich jetzt den Genuß hatte, den besondern Reiz und die Liebenswür¬
digkeit ihres Wesens freier hervortreten zu sehen. Besonders war
mir Charlotte in ihrer einfachen Familienumgebung eine fesselnde Er¬
scheinung ; eine hohe, schlanke Gestalt mit reichem dunklem Haar und
glühendem Auge, stets ernst bescheiden und von einem innern Werthe,
den die reichen Damen, denen sie die neuen Kleider anprobirte, wohl
kaum in ihr vermutheten. Die Lectüre guter Bücher, von ihren er¬
sparten Groschen aus der Leihbibliothek bezogen, war in ihren weni¬
gen Mußestunden ihre einzige Erholung, und ich hatte oft genug
Ursache, mich über ihren Geschmack und über manches richtige Ur¬
theil, das ich von ihr hörte, zu wundern. Sie wußte, wie die mei¬
sten Berlinerinnen, gut und gewandt zu sprechen, aber in dem Ton
ihrer Stimme so wie in ihrer ganzen Art und Weise lag ein gewis¬
ser Stolz, der fast wie Kälte aussah, wenn nicht ihr Blick und ihre
bewegten Züge die innern Regungen eines leidenschaftlichen Gemüths


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[0243] ärmlichen Hofwohnungcn, während ich dort in jenem glänzenden Zir¬ kel nur häßliche, verkümmerte Gesichter sah! Auch in der einfachen Kleidung der Mutter bemerkte ich eine edle Reinlichkeit und in ihrem Gesicht und Wesen eine Anmuth, die das Alter noch nicht ganz ver¬ wischt hatte. Als der Schlüssel längst gefunden war, konnte ich mich noch immer nicht trennen; ein begonnenes Gespräch mit Herrn und Madame Thümmel entschuldigte mein Bleiben. Die Leute erzählten mir von ihren Verhältnissen; wie ihre Arbeit sonst besser gegangen, wie sie nicht hätten nöthig gehabt, zu vermiethen, wie sie unter der überaus gehäuften Concurrenz leiden und alle ihre Kräfte anstrengen müßten, nur durchzukommen; daß Charlotte und Therese, die beiden ältern Töchter, dem Vater helfen müßten und Auguste (Juste ge¬ nannt) in einem Putzgeschäft arbeite, von wo sie des Abends um sieben Uhr zurückkehre, um die Ihrigen noch einige Stunden bei der Arbeit zu unterstützen, die so schlecht bezahlt werde. Die Mädchen schwiegen natürlich bei diesen Erzählungen bescheiden still und ant¬ worteten auf meine wenigen Fragen kurz und nett. Als es schon längst zwölf Uhr war, empfahl ich mich erst und. ich kann wohl sa¬ gen, daß ich in dieser armen Familie meine erste gemüthliche Stunde in Berlin verlebte. Von nun an wurde ich nach und nach ihr täg¬ licher Gast, Vertrauter und Freund. Die Alten wurden mir immer gewogener und auch die Mädchen mit der Zeit unbefangener, so daß ich jetzt den Genuß hatte, den besondern Reiz und die Liebenswür¬ digkeit ihres Wesens freier hervortreten zu sehen. Besonders war mir Charlotte in ihrer einfachen Familienumgebung eine fesselnde Er¬ scheinung ; eine hohe, schlanke Gestalt mit reichem dunklem Haar und glühendem Auge, stets ernst bescheiden und von einem innern Werthe, den die reichen Damen, denen sie die neuen Kleider anprobirte, wohl kaum in ihr vermutheten. Die Lectüre guter Bücher, von ihren er¬ sparten Groschen aus der Leihbibliothek bezogen, war in ihren weni¬ gen Mußestunden ihre einzige Erholung, und ich hatte oft genug Ursache, mich über ihren Geschmack und über manches richtige Ur¬ theil, das ich von ihr hörte, zu wundern. Sie wußte, wie die mei¬ sten Berlinerinnen, gut und gewandt zu sprechen, aber in dem Ton ihrer Stimme so wie in ihrer ganzen Art und Weise lag ein gewis¬ ser Stolz, der fast wie Kälte aussah, wenn nicht ihr Blick und ihre bewegten Züge die innern Regungen eines leidenschaftlichen Gemüths

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/243>, abgerufen am 17.06.2024.