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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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die noch unschuldig ist, so feci und frisch, wie ! alte Gesänge des
Mittelalters sie ungesucht bringen, in einer Dichtung von heute
wiederzueben?

Die Einleitungen zum Gedicht von Zedlitz sind ihm verunglückt.
Der Dichter sucht erst Stimmung und Ton für seinen Stoff, und
um beides zu finden, geht er der Naivetät alter Weisen nach, deren
gewaltsame Nachahmung quälerisch wirkt. Es ist bezeichnend genug,
daß ein Sänger von heute für den Fall einer Jungfrau, für die
Sünde kindlicher Unwissenheit, nicht mehr aus seinem Bewußtsein
den rechten Ton des Liedes findet, um den Stoff weder schwerer
zu nehmen, als ihn die überlieferte Sage gibt, noch ihn durch falsche
Scham zu verderben. -- Eine Könistochter liebt einen Knaben,-


"Und gegen allen Hofesbrauch,
Hinter dem wilden Roenstrauch"

sind die Sinne mächtiger als das Bewußtsein. Solche Situation
bleibt nur im Munde deS naiven Mittelalters unsträflich. Um sie
erträglich zu machen für das sittliche Schönheitsgefühl von heut",
zwingt sich Zedlitz zu den Knittelversen alter Poeme.


"Die Mutter, einem Knaben hold,
Gewärte was eniteollt."

,
DaS klingt fast wie jene Fibelverse, die auf jeden Buchstaben im
Alphabet einen Reim brinen:


Sd. Die Norm' in Sack und Asch' thut Buß.
Ein Nagelbohr man haben muß!

Zedlitz wollte nicht witzig sein, aber die gezwungene Natureinfalt des
alten KnittelreimS blamirt fast die keusche Schönheit der unbedachten
Hingabe von Seel' an Seele, Leib an Leib. Auch für die Schilde¬
rung der Schwangerschaft findet Zedlitz nicht den Ton, der das Zarte,
das Geeimnivollenit verunstaltete.


"Bald wird zu eng das straffe Mieder.
Der schlanke Leib allmäliswillt."

Das ist, wenn nicht unschön, doch sehr platt. Der Bänkelsängerton
alter Balladen erscheint uns mit unseren Begriffen von Delicatesse
nicht mehr ausreichend, um die süßen Schauer der Empfängniß zu
feiern. Wer hier grob schildert, beleidigt. ES kommt bei so zarten
Stoffen darauf an, im Helldunkel malen zu können. Die Prosa


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die noch unschuldig ist, so feci und frisch, wie ! alte Gesänge des
Mittelalters sie ungesucht bringen, in einer Dichtung von heute
wiederzueben?

Die Einleitungen zum Gedicht von Zedlitz sind ihm verunglückt.
Der Dichter sucht erst Stimmung und Ton für seinen Stoff, und
um beides zu finden, geht er der Naivetät alter Weisen nach, deren
gewaltsame Nachahmung quälerisch wirkt. Es ist bezeichnend genug,
daß ein Sänger von heute für den Fall einer Jungfrau, für die
Sünde kindlicher Unwissenheit, nicht mehr aus seinem Bewußtsein
den rechten Ton des Liedes findet, um den Stoff weder schwerer
zu nehmen, als ihn die überlieferte Sage gibt, noch ihn durch falsche
Scham zu verderben. — Eine Könistochter liebt einen Knaben,-


„Und gegen allen Hofesbrauch,
Hinter dem wilden Roenstrauch"

sind die Sinne mächtiger als das Bewußtsein. Solche Situation
bleibt nur im Munde deS naiven Mittelalters unsträflich. Um sie
erträglich zu machen für das sittliche Schönheitsgefühl von heut»,
zwingt sich Zedlitz zu den Knittelversen alter Poeme.


„Die Mutter, einem Knaben hold,
Gewärte was eniteollt."

,
DaS klingt fast wie jene Fibelverse, die auf jeden Buchstaben im
Alphabet einen Reim brinen:


Sd. Die Norm' in Sack und Asch' thut Buß.
Ein Nagelbohr man haben muß!

Zedlitz wollte nicht witzig sein, aber die gezwungene Natureinfalt des
alten KnittelreimS blamirt fast die keusche Schönheit der unbedachten
Hingabe von Seel' an Seele, Leib an Leib. Auch für die Schilde¬
rung der Schwangerschaft findet Zedlitz nicht den Ton, der das Zarte,
das Geeimnivollenit verunstaltete.


„Bald wird zu eng das straffe Mieder.
Der schlanke Leib allmäliswillt."

Das ist, wenn nicht unschön, doch sehr platt. Der Bänkelsängerton
alter Balladen erscheint uns mit unseren Begriffen von Delicatesse
nicht mehr ausreichend, um die süßen Schauer der Empfängniß zu
feiern. Wer hier grob schildert, beleidigt. ES kommt bei so zarten
Stoffen darauf an, im Helldunkel malen zu können. Die Prosa


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[0071] die noch unschuldig ist, so feci und frisch, wie ! alte Gesänge des Mittelalters sie ungesucht bringen, in einer Dichtung von heute wiederzueben? Die Einleitungen zum Gedicht von Zedlitz sind ihm verunglückt. Der Dichter sucht erst Stimmung und Ton für seinen Stoff, und um beides zu finden, geht er der Naivetät alter Weisen nach, deren gewaltsame Nachahmung quälerisch wirkt. Es ist bezeichnend genug, daß ein Sänger von heute für den Fall einer Jungfrau, für die Sünde kindlicher Unwissenheit, nicht mehr aus seinem Bewußtsein den rechten Ton des Liedes findet, um den Stoff weder schwerer zu nehmen, als ihn die überlieferte Sage gibt, noch ihn durch falsche Scham zu verderben. — Eine Könistochter liebt einen Knaben,- „Und gegen allen Hofesbrauch, Hinter dem wilden Roenstrauch" sind die Sinne mächtiger als das Bewußtsein. Solche Situation bleibt nur im Munde deS naiven Mittelalters unsträflich. Um sie erträglich zu machen für das sittliche Schönheitsgefühl von heut», zwingt sich Zedlitz zu den Knittelversen alter Poeme. „Die Mutter, einem Knaben hold, Gewärte was eniteollt." , DaS klingt fast wie jene Fibelverse, die auf jeden Buchstaben im Alphabet einen Reim brinen: Sd. Die Norm' in Sack und Asch' thut Buß. Ein Nagelbohr man haben muß! Zedlitz wollte nicht witzig sein, aber die gezwungene Natureinfalt des alten KnittelreimS blamirt fast die keusche Schönheit der unbedachten Hingabe von Seel' an Seele, Leib an Leib. Auch für die Schilde¬ rung der Schwangerschaft findet Zedlitz nicht den Ton, der das Zarte, das Geeimnivollenit verunstaltete. „Bald wird zu eng das straffe Mieder. Der schlanke Leib allmäliswillt." Das ist, wenn nicht unschön, doch sehr platt. Der Bänkelsängerton alter Balladen erscheint uns mit unseren Begriffen von Delicatesse nicht mehr ausreichend, um die süßen Schauer der Empfängniß zu feiern. Wer hier grob schildert, beleidigt. ES kommt bei so zarten Stoffen darauf an, im Helldunkel malen zu können. Die Prosa 9»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/71>, abgerufen am 17.06.2024.