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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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doch, den Tod ausgenommen, kein Heilmittel gibt. Darum quack-
falbern so Viele daran herum!

Es würde nicht ganz Recht sein, wenn Jemand behauptete, daß
wir von heute in einer literarischen Lazarethepoche begriffen seien.
Es würde wenigstens einen starken Grad von Hypochondrie verra-
then. Wir haben ja unsern productiven Liberalismus, der sich sür
den Vertreter der Schönheit hält. Wir haben unsern productiven
Servilismus, der sich wie ein Inhaber der Wahrheit geberdet. Schön-
heit und Wahrheit werden wohl nicht entschieden auf der einen, nicht
entschieden auf der andern Seite liegen. Auch nicht in der Mitte,
wie Herr von Raumer sagt. Schönheit und Wahrheit werden wohl
in frischen Kräften der Zukunft ihre Priester finden. Und mit ihnen
werden wir, wonach Sie, meine Freundin, Verlangen tragen, auch
wieder Unschuld in der Literatur haben.

Aber Zukunft! entgegnen Sie mir. Was solI ich mit der Zu^
sun^t, wenn ich keine Gegenwart habe?

Nun, so brauchen Sie doch immer noch nicht zu Frederike Bre-
mer, ihren Hühnerhosgeschichten und Gemüsegartennovellen Ihre Zu-
flucht zU nehmen. Entweder ist an der Unschuld nicht viel, wenn
sie sich auf den kleinen Kram der gemüthlichen Familienstille beschrän-
ken soll, oder es gibt noch Unschuld des Geistes unter uns. Wan-
dern Sie mit Ihrer Lectüre nach Süddeutschland aus! Lesen Sie
^ Waldfräulein von Zedlitz! Hiex ist Unschuld, keine Prüderie, -
Prüderie ist überhaupt nur die Prätension aus Unschuld, wo diese
fehlt. Ich meine nicht Zedlitz, den Menschen, nicht Zedlitz, den
österreichischen Staatsbürger und Wiener Correspondenten, ich meine
Zedlitz in seinen guten Stunden, und unsere Poesie sollte immer
nur das Erzeugniß unserer Feierstunden sein; - im Poeten Zedlitz
ist wirklich eine ungestörte Unschuld des Geistes mächtig und wirt--
sam. Man glaube nicht, dies sei einem Wiener leicht! Mitten im
schwelgerischen Sinnenjubel ist es sehr schwer, eine Unschuld des
Herzens, eine Unsträflichkeit des Gedankens festzuhalten. In jener
Flucht vor Allem, was drängt und quält, liegt eine geheime Unsitt-
Iichkeit. Man nimmt das als Verhängniß hin, was dex freien That-
kxaft.zur Entscheidung angehören sollte, .und unter dieser Decke wel-
ken edle Kräfte langsam hin. Ist es Kra^t des Geistes oder ein In-
stinkI der Seele, die Harmonie des sittlichen Menschen, eine Romantik,


doch, den Tod ausgenommen, kein Heilmittel gibt. Darum quack-
falbern so Viele daran herum!

Es würde nicht ganz Recht sein, wenn Jemand behauptete, daß
wir von heute in einer literarischen Lazarethepoche begriffen seien.
Es würde wenigstens einen starken Grad von Hypochondrie verra-
then. Wir haben ja unsern productiven Liberalismus, der sich sür
den Vertreter der Schönheit hält. Wir haben unsern productiven
Servilismus, der sich wie ein Inhaber der Wahrheit geberdet. Schön-
heit und Wahrheit werden wohl nicht entschieden auf der einen, nicht
entschieden auf der andern Seite liegen. Auch nicht in der Mitte,
wie Herr von Raumer sagt. Schönheit und Wahrheit werden wohl
in frischen Kräften der Zukunft ihre Priester finden. Und mit ihnen
werden wir, wonach Sie, meine Freundin, Verlangen tragen, auch
wieder Unschuld in der Literatur haben.

Aber Zukunft! entgegnen Sie mir. Was solI ich mit der Zu^
sun^t, wenn ich keine Gegenwart habe?

Nun, so brauchen Sie doch immer noch nicht zu Frederike Bre-
mer, ihren Hühnerhosgeschichten und Gemüsegartennovellen Ihre Zu-
flucht zU nehmen. Entweder ist an der Unschuld nicht viel, wenn
sie sich auf den kleinen Kram der gemüthlichen Familienstille beschrän-
ken soll, oder es gibt noch Unschuld des Geistes unter uns. Wan-
dern Sie mit Ihrer Lectüre nach Süddeutschland aus! Lesen Sie
^ Waldfräulein von Zedlitz! Hiex ist Unschuld, keine Prüderie, -
Prüderie ist überhaupt nur die Prätension aus Unschuld, wo diese
fehlt. Ich meine nicht Zedlitz, den Menschen, nicht Zedlitz, den
österreichischen Staatsbürger und Wiener Correspondenten, ich meine
Zedlitz in seinen guten Stunden, und unsere Poesie sollte immer
nur das Erzeugniß unserer Feierstunden sein; - im Poeten Zedlitz
ist wirklich eine ungestörte Unschuld des Geistes mächtig und wirt--
sam. Man glaube nicht, dies sei einem Wiener leicht! Mitten im
schwelgerischen Sinnenjubel ist es sehr schwer, eine Unschuld des
Herzens, eine Unsträflichkeit des Gedankens festzuhalten. In jener
Flucht vor Allem, was drängt und quält, liegt eine geheime Unsitt-
Iichkeit. Man nimmt das als Verhängniß hin, was dex freien That-
kxaft.zur Entscheidung angehören sollte, .und unter dieser Decke wel-
ken edle Kräfte langsam hin. Ist es Kra^t des Geistes oder ein In-
stinkI der Seele, die Harmonie des sittlichen Menschen, eine Romantik,


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[0070] doch, den Tod ausgenommen, kein Heilmittel gibt. Darum quack- falbern so Viele daran herum! Es würde nicht ganz Recht sein, wenn Jemand behauptete, daß wir von heute in einer literarischen Lazarethepoche begriffen seien. Es würde wenigstens einen starken Grad von Hypochondrie verra- then. Wir haben ja unsern productiven Liberalismus, der sich sür den Vertreter der Schönheit hält. Wir haben unsern productiven Servilismus, der sich wie ein Inhaber der Wahrheit geberdet. Schön- heit und Wahrheit werden wohl nicht entschieden auf der einen, nicht entschieden auf der andern Seite liegen. Auch nicht in der Mitte, wie Herr von Raumer sagt. Schönheit und Wahrheit werden wohl in frischen Kräften der Zukunft ihre Priester finden. Und mit ihnen werden wir, wonach Sie, meine Freundin, Verlangen tragen, auch wieder Unschuld in der Literatur haben. Aber Zukunft! entgegnen Sie mir. Was solI ich mit der Zu^ sun^t, wenn ich keine Gegenwart habe? Nun, so brauchen Sie doch immer noch nicht zu Frederike Bre- mer, ihren Hühnerhosgeschichten und Gemüsegartennovellen Ihre Zu- flucht zU nehmen. Entweder ist an der Unschuld nicht viel, wenn sie sich auf den kleinen Kram der gemüthlichen Familienstille beschrän- ken soll, oder es gibt noch Unschuld des Geistes unter uns. Wan- dern Sie mit Ihrer Lectüre nach Süddeutschland aus! Lesen Sie ^ Waldfräulein von Zedlitz! Hiex ist Unschuld, keine Prüderie, - Prüderie ist überhaupt nur die Prätension aus Unschuld, wo diese fehlt. Ich meine nicht Zedlitz, den Menschen, nicht Zedlitz, den österreichischen Staatsbürger und Wiener Correspondenten, ich meine Zedlitz in seinen guten Stunden, und unsere Poesie sollte immer nur das Erzeugniß unserer Feierstunden sein; - im Poeten Zedlitz ist wirklich eine ungestörte Unschuld des Geistes mächtig und wirt-- sam. Man glaube nicht, dies sei einem Wiener leicht! Mitten im schwelgerischen Sinnenjubel ist es sehr schwer, eine Unschuld des Herzens, eine Unsträflichkeit des Gedankens festzuhalten. In jener Flucht vor Allem, was drängt und quält, liegt eine geheime Unsitt- Iichkeit. Man nimmt das als Verhängniß hin, was dex freien That- kxaft.zur Entscheidung angehören sollte, .und unter dieser Decke wel- ken edle Kräfte langsam hin. Ist es Kra^t des Geistes oder ein In- stinkI der Seele, die Harmonie des sittlichen Menschen, eine Romantik,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/70>, abgerufen am 17.06.2024.