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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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eben nur der Gedanke. Weiter kommt man nicht, wenn man der Wahr¬
heit die Ehre gibt. Es ist von der Philosophie völlige Vorausbe-
zugslosigkeit verlangt worden, und siehe da! sie meint dieser Anfor¬
derung entsprechen zu können. Macht man aber mit dieser Behaup¬
tung Ernst, so liegt die Unmöglichkeit alles Philosophirens auf der
Hand. Das denkende Subject ist doch wohl auch schon eine Vor¬
aussetzung, eine gar concrete und compacte. Die Philosophie, als
eine voraussetzungölose, kann also dann gar nicht einmal gedacht
werden, weil dieses ein denkendes voraussetzt. Läßt man es sich aber
gefallen, mit einem solchen den Anfang zu machen, so darf man nicht
meinen, mit der Fiction des sich selbst denkenden Denkens -- selbst dessen
Möglichkeit zu gegeben! -- diese Schwierigkeit zu umgehen. Die Frage
nach der Wirklichkeit einer solchen Philosophie bleibt dieselbe, und ihre
Voraussetzung^wäre nunmehr wenigstens der Nachweis, wie dieses sich
selbst denkende Denken aus seiner transcendenter Höhe in den Kopf
des Philosophen herniedergestiegen. -- Dieser hat jüngst dem The¬
ologen den Vorwurf der Heuchelei gemacht -- aber in Wahrheit --
ein solcher Vorwurf kann mit Fug und Recht zurückgegeben werden.
-- Das ist ein gewaltiges Problem, die Unmöglichkeit möglich zu
machen. Und dazu ist nicht einmal eine Preisaufgabe nöthig gewe¬
sen. Von freien Stücken hat sich die Philosophie daran gemacht.
Fürwahr, es geschehen noch aller Zeiten und aller Orten Wunder --
für den gläubigen Haufen.

Soviel für heute! In diesem ersten Artikel genüge es, die
eine große Grundlüge deS "Systems", die in der That mit staunens-
werthen Scharfsinn durch alle einzelnen Gebiete hindurch geführt ist,
anzudeuten. Da steht es denn da, gepanzert und geharnischt, eine
scheinbar undurchbrechliche Phalanx, jede zu sich hinüber heischend.
Aber dem gesunden menschlichen Auge ist eine wundersame Macht
gegeben. Die Lüge hält ihm nicht Stand, und der gewaltige Bau
zerrinnt in Luft und Nebel. -- In den folgenden Artikeln soll ver¬
sucht werden, in einzelnen Theilen dieser Philosophie ihre Heuchelei
genauer nachzuweisen und anschaulicher zu machen.




eben nur der Gedanke. Weiter kommt man nicht, wenn man der Wahr¬
heit die Ehre gibt. Es ist von der Philosophie völlige Vorausbe-
zugslosigkeit verlangt worden, und siehe da! sie meint dieser Anfor¬
derung entsprechen zu können. Macht man aber mit dieser Behaup¬
tung Ernst, so liegt die Unmöglichkeit alles Philosophirens auf der
Hand. Das denkende Subject ist doch wohl auch schon eine Vor¬
aussetzung, eine gar concrete und compacte. Die Philosophie, als
eine voraussetzungölose, kann also dann gar nicht einmal gedacht
werden, weil dieses ein denkendes voraussetzt. Läßt man es sich aber
gefallen, mit einem solchen den Anfang zu machen, so darf man nicht
meinen, mit der Fiction des sich selbst denkenden Denkens — selbst dessen
Möglichkeit zu gegeben! — diese Schwierigkeit zu umgehen. Die Frage
nach der Wirklichkeit einer solchen Philosophie bleibt dieselbe, und ihre
Voraussetzung^wäre nunmehr wenigstens der Nachweis, wie dieses sich
selbst denkende Denken aus seiner transcendenter Höhe in den Kopf
des Philosophen herniedergestiegen. — Dieser hat jüngst dem The¬
ologen den Vorwurf der Heuchelei gemacht — aber in Wahrheit —
ein solcher Vorwurf kann mit Fug und Recht zurückgegeben werden.
— Das ist ein gewaltiges Problem, die Unmöglichkeit möglich zu
machen. Und dazu ist nicht einmal eine Preisaufgabe nöthig gewe¬
sen. Von freien Stücken hat sich die Philosophie daran gemacht.
Fürwahr, es geschehen noch aller Zeiten und aller Orten Wunder —
für den gläubigen Haufen.

Soviel für heute! In diesem ersten Artikel genüge es, die
eine große Grundlüge deS „Systems", die in der That mit staunens-
werthen Scharfsinn durch alle einzelnen Gebiete hindurch geführt ist,
anzudeuten. Da steht es denn da, gepanzert und geharnischt, eine
scheinbar undurchbrechliche Phalanx, jede zu sich hinüber heischend.
Aber dem gesunden menschlichen Auge ist eine wundersame Macht
gegeben. Die Lüge hält ihm nicht Stand, und der gewaltige Bau
zerrinnt in Luft und Nebel. — In den folgenden Artikeln soll ver¬
sucht werden, in einzelnen Theilen dieser Philosophie ihre Heuchelei
genauer nachzuweisen und anschaulicher zu machen.




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[0045] eben nur der Gedanke. Weiter kommt man nicht, wenn man der Wahr¬ heit die Ehre gibt. Es ist von der Philosophie völlige Vorausbe- zugslosigkeit verlangt worden, und siehe da! sie meint dieser Anfor¬ derung entsprechen zu können. Macht man aber mit dieser Behaup¬ tung Ernst, so liegt die Unmöglichkeit alles Philosophirens auf der Hand. Das denkende Subject ist doch wohl auch schon eine Vor¬ aussetzung, eine gar concrete und compacte. Die Philosophie, als eine voraussetzungölose, kann also dann gar nicht einmal gedacht werden, weil dieses ein denkendes voraussetzt. Läßt man es sich aber gefallen, mit einem solchen den Anfang zu machen, so darf man nicht meinen, mit der Fiction des sich selbst denkenden Denkens — selbst dessen Möglichkeit zu gegeben! — diese Schwierigkeit zu umgehen. Die Frage nach der Wirklichkeit einer solchen Philosophie bleibt dieselbe, und ihre Voraussetzung^wäre nunmehr wenigstens der Nachweis, wie dieses sich selbst denkende Denken aus seiner transcendenter Höhe in den Kopf des Philosophen herniedergestiegen. — Dieser hat jüngst dem The¬ ologen den Vorwurf der Heuchelei gemacht — aber in Wahrheit — ein solcher Vorwurf kann mit Fug und Recht zurückgegeben werden. — Das ist ein gewaltiges Problem, die Unmöglichkeit möglich zu machen. Und dazu ist nicht einmal eine Preisaufgabe nöthig gewe¬ sen. Von freien Stücken hat sich die Philosophie daran gemacht. Fürwahr, es geschehen noch aller Zeiten und aller Orten Wunder — für den gläubigen Haufen. Soviel für heute! In diesem ersten Artikel genüge es, die eine große Grundlüge deS „Systems", die in der That mit staunens- werthen Scharfsinn durch alle einzelnen Gebiete hindurch geführt ist, anzudeuten. Da steht es denn da, gepanzert und geharnischt, eine scheinbar undurchbrechliche Phalanx, jede zu sich hinüber heischend. Aber dem gesunden menschlichen Auge ist eine wundersame Macht gegeben. Die Lüge hält ihm nicht Stand, und der gewaltige Bau zerrinnt in Luft und Nebel. — In den folgenden Artikeln soll ver¬ sucht werden, in einzelnen Theilen dieser Philosophie ihre Heuchelei genauer nachzuweisen und anschaulicher zu machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/45>, abgerufen am 27.05.2024.