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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester.

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der hereinbrechenden Umwälzung durch die moderne Generation den
Untergang der Gesellschaft und Gesittung Europas. Der Wahn, daß
mit ihnen die letzten Säulen Polens und mit diesen zugleich Civilisa¬
tion und Christenthum untergehen müssen, ist ihnen eine tragische
Genugthuung. Die letzten Scenen ,,der ungöttlichen Komödie" (deren
Verf. selbst Aristokrat) schildern einen polnischen Aufstand; diese Schil¬
derung trägt aber mehr den Charakter einer allgemeinen socialen Revo¬
lution, mit den Farben von 1/93 gespenstisch ausgemalt, und geht
zuletzt in eine Art Weltgericht aus; "der Mann" fallt im Kampfe
gegen die anarchische Wuth des Pöbels, ein Märtyrer seiner aristokra¬
tischen Ueberzeugungen, das Schwert in der Hand. Solch ein Toi?
war dem unglücklichen Raczynski nicht vergönnt. -- Man richte aber
nicht zu streng; auch demokratische Polen sind auf ähnliche Weise un¬
tergegangen. Wir haben gewiß keine Vorstellung von den Schmerzen,
die ein polnisches Gemüth zerreißen, beim Anblick des langsam zerbrök-
kelnden Vaterlandes und im Seitenblick auf den behaglich besonnenen
Fortschritt anderer Völker, die zum Glück für den Einzelnen, wenn
auch nicht für die Gesammtheit, phlegmatischer und unempfindlicher geartet
sind. Von den slavischen Brüdern wird der polnische Patriot, aus
panslavistischcr Verblendung, als Egoist (!) aufgegeben, und bei uns
Deutschen findet er auch nur Sympathie auf dem Papiere; selbst das
nicht überall. Solche Einsamkeit muß gräßlich sein. In unsern gro¬
ßen Zeitungen macht sich sogar jenes grunddeulsche Philisterium breit,
welches dein Gefallenen Nichts als Moral predigen kann und ihm das
Thörichte seiner Revolutionslust, die Oberflächlichkeit seiner politischen
Ansichten, die Eitelkeit seiner Hoffnungen sehr gründlich nachweist.
Freilich, in den Jamben unserer Trauerspieldichter erkennen wir die
heroischen Leidenschaften mit Vergnügen an, da sind wir selbst hoch¬
tönend und hochtrabend; wo wir ihnen im Leben, auf dem Boden der
wirklichen Welt begegnen, machen wir den Schulmeister gegen sie.
Die meisten Zeitungen waren unlängst voll des gemüthlichsten Lobes
für die musterhafte Ordnung, die der tüchtige Polizeimeister Abrcuno-
wicz in Warschau hergestellt. Darauf aber schilderte ein Brief "von
der polnischen Grenze" in der Augsburger diese Warschauer Ordnung,
die darin besteht, daß kein Mund von allgemeinen Dingen ^zu flüstern
wagt, und die nur die Seufzer der Familien erstickt, deren Söhne man
bald nach Sibirien, bald nach dem Kaukasus schleppt -- wegen Com¬
munismus. Wahrscheinlich ein Communismus, wie der in Galizien,
wo Oesterreich dreihundert Denuncirte, in guter Einsicht ihrer Harm¬
losigkeit, amnestirt hat. Aber selbst jener Berichterstatter "von der
polnischen Grenze" halt sich sehr "objectiv." Der eisigen Faust Ru߬
lands, die in Polens innersten Eingeweiden wühlt, weiß er nur die
Consequenz nachzurühmen: anders beurtheilt er die polnische Propa¬
ganda, welche verbotene Bücher nach Polen schmuggelt. Die Propa-


der hereinbrechenden Umwälzung durch die moderne Generation den
Untergang der Gesellschaft und Gesittung Europas. Der Wahn, daß
mit ihnen die letzten Säulen Polens und mit diesen zugleich Civilisa¬
tion und Christenthum untergehen müssen, ist ihnen eine tragische
Genugthuung. Die letzten Scenen ,,der ungöttlichen Komödie" (deren
Verf. selbst Aristokrat) schildern einen polnischen Aufstand; diese Schil¬
derung trägt aber mehr den Charakter einer allgemeinen socialen Revo¬
lution, mit den Farben von 1/93 gespenstisch ausgemalt, und geht
zuletzt in eine Art Weltgericht aus; „der Mann" fallt im Kampfe
gegen die anarchische Wuth des Pöbels, ein Märtyrer seiner aristokra¬
tischen Ueberzeugungen, das Schwert in der Hand. Solch ein Toi?
war dem unglücklichen Raczynski nicht vergönnt. — Man richte aber
nicht zu streng; auch demokratische Polen sind auf ähnliche Weise un¬
tergegangen. Wir haben gewiß keine Vorstellung von den Schmerzen,
die ein polnisches Gemüth zerreißen, beim Anblick des langsam zerbrök-
kelnden Vaterlandes und im Seitenblick auf den behaglich besonnenen
Fortschritt anderer Völker, die zum Glück für den Einzelnen, wenn
auch nicht für die Gesammtheit, phlegmatischer und unempfindlicher geartet
sind. Von den slavischen Brüdern wird der polnische Patriot, aus
panslavistischcr Verblendung, als Egoist (!) aufgegeben, und bei uns
Deutschen findet er auch nur Sympathie auf dem Papiere; selbst das
nicht überall. Solche Einsamkeit muß gräßlich sein. In unsern gro¬
ßen Zeitungen macht sich sogar jenes grunddeulsche Philisterium breit,
welches dein Gefallenen Nichts als Moral predigen kann und ihm das
Thörichte seiner Revolutionslust, die Oberflächlichkeit seiner politischen
Ansichten, die Eitelkeit seiner Hoffnungen sehr gründlich nachweist.
Freilich, in den Jamben unserer Trauerspieldichter erkennen wir die
heroischen Leidenschaften mit Vergnügen an, da sind wir selbst hoch¬
tönend und hochtrabend; wo wir ihnen im Leben, auf dem Boden der
wirklichen Welt begegnen, machen wir den Schulmeister gegen sie.
Die meisten Zeitungen waren unlängst voll des gemüthlichsten Lobes
für die musterhafte Ordnung, die der tüchtige Polizeimeister Abrcuno-
wicz in Warschau hergestellt. Darauf aber schilderte ein Brief „von
der polnischen Grenze" in der Augsburger diese Warschauer Ordnung,
die darin besteht, daß kein Mund von allgemeinen Dingen ^zu flüstern
wagt, und die nur die Seufzer der Familien erstickt, deren Söhne man
bald nach Sibirien, bald nach dem Kaukasus schleppt — wegen Com¬
munismus. Wahrscheinlich ein Communismus, wie der in Galizien,
wo Oesterreich dreihundert Denuncirte, in guter Einsicht ihrer Harm¬
losigkeit, amnestirt hat. Aber selbst jener Berichterstatter „von der
polnischen Grenze" halt sich sehr „objectiv." Der eisigen Faust Ru߬
lands, die in Polens innersten Eingeweiden wühlt, weiß er nur die
Consequenz nachzurühmen: anders beurtheilt er die polnische Propa¬
ganda, welche verbotene Bücher nach Polen schmuggelt. Die Propa-


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[0401] der hereinbrechenden Umwälzung durch die moderne Generation den Untergang der Gesellschaft und Gesittung Europas. Der Wahn, daß mit ihnen die letzten Säulen Polens und mit diesen zugleich Civilisa¬ tion und Christenthum untergehen müssen, ist ihnen eine tragische Genugthuung. Die letzten Scenen ,,der ungöttlichen Komödie" (deren Verf. selbst Aristokrat) schildern einen polnischen Aufstand; diese Schil¬ derung trägt aber mehr den Charakter einer allgemeinen socialen Revo¬ lution, mit den Farben von 1/93 gespenstisch ausgemalt, und geht zuletzt in eine Art Weltgericht aus; „der Mann" fallt im Kampfe gegen die anarchische Wuth des Pöbels, ein Märtyrer seiner aristokra¬ tischen Ueberzeugungen, das Schwert in der Hand. Solch ein Toi? war dem unglücklichen Raczynski nicht vergönnt. — Man richte aber nicht zu streng; auch demokratische Polen sind auf ähnliche Weise un¬ tergegangen. Wir haben gewiß keine Vorstellung von den Schmerzen, die ein polnisches Gemüth zerreißen, beim Anblick des langsam zerbrök- kelnden Vaterlandes und im Seitenblick auf den behaglich besonnenen Fortschritt anderer Völker, die zum Glück für den Einzelnen, wenn auch nicht für die Gesammtheit, phlegmatischer und unempfindlicher geartet sind. Von den slavischen Brüdern wird der polnische Patriot, aus panslavistischcr Verblendung, als Egoist (!) aufgegeben, und bei uns Deutschen findet er auch nur Sympathie auf dem Papiere; selbst das nicht überall. Solche Einsamkeit muß gräßlich sein. In unsern gro¬ ßen Zeitungen macht sich sogar jenes grunddeulsche Philisterium breit, welches dein Gefallenen Nichts als Moral predigen kann und ihm das Thörichte seiner Revolutionslust, die Oberflächlichkeit seiner politischen Ansichten, die Eitelkeit seiner Hoffnungen sehr gründlich nachweist. Freilich, in den Jamben unserer Trauerspieldichter erkennen wir die heroischen Leidenschaften mit Vergnügen an, da sind wir selbst hoch¬ tönend und hochtrabend; wo wir ihnen im Leben, auf dem Boden der wirklichen Welt begegnen, machen wir den Schulmeister gegen sie. Die meisten Zeitungen waren unlängst voll des gemüthlichsten Lobes für die musterhafte Ordnung, die der tüchtige Polizeimeister Abrcuno- wicz in Warschau hergestellt. Darauf aber schilderte ein Brief „von der polnischen Grenze" in der Augsburger diese Warschauer Ordnung, die darin besteht, daß kein Mund von allgemeinen Dingen ^zu flüstern wagt, und die nur die Seufzer der Familien erstickt, deren Söhne man bald nach Sibirien, bald nach dem Kaukasus schleppt — wegen Com¬ munismus. Wahrscheinlich ein Communismus, wie der in Galizien, wo Oesterreich dreihundert Denuncirte, in guter Einsicht ihrer Harm¬ losigkeit, amnestirt hat. Aber selbst jener Berichterstatter „von der polnischen Grenze" halt sich sehr „objectiv." Der eisigen Faust Ru߬ lands, die in Polens innersten Eingeweiden wühlt, weiß er nur die Consequenz nachzurühmen: anders beurtheilt er die polnische Propa¬ ganda, welche verbotene Bücher nach Polen schmuggelt. Die Propa-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_269416/401>, abgerufen am 17.06.2024.