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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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und die Wirklichkeit nehmen wie sie ist. Mag die akademische Jugend
aufhören, mit dem Schein einer Freiheit zu spielen, die sie nicht be¬
sitzt. Mögen die Hubers, die Hävernicks, die Stahls allgemeiner
Universitätstypus werden; wir verlieren dabei Nichts, wir gewinnen
nur (?).

Und die preußischen Universitäten bleiben immer noch im Besitz
einer großen Freiheit, wenn man nur die richtigen Vergleiche anstellt.
Auch die Türkei und andere mohamedanische Staaten, z.B. Bochara,
haben eine Art von Hochschulen (Mcdrcssem); da sieht man erst, was
aus den Universitäten werden kann. Und nirgends ist das Verdum-
mungssystem einer Regierung wohl so grell hervorgetreten, als in
Modena und Sardinien, wo noch im Jahre 182" ein königliches Edict
das Lesen- und Schreiben-Lernen jedem, der sich nicht über den Besitz
von Lires (Francs) an Vermögen, und das Studiren jeden, ver¬
bot, der sich nicht über eben so viel an Renten ausweisen konnte.
Dergleichen ist in Preußen unmöglich. Wenn dieser Staat aber durch
seine Maßnahmen für das Universitätswesen Aufsehen erregt, so erfüllt
er dadurch nur ein Schicksal, welches die deutschen Universitäten sich
selbst zuzuschreiben haben. Das Schicksal ihres Servilismus soll er¬
füllt werden.

Ich will Ihnen eine kleine Geschichte von einem hiesigen From¬
men erzählen. Vor einigen Tagen, Morgens früh, tritt ein armer
Schneidergeselle, der ganz ohne Arbeit ist, in mein Zimmer und bittet
um eine kleine Gabe. Der arme Mensch war in seiner Noth einer
frommen Colonie in die Hände gefallen und von ihr mit Gesängen
und Tractätchen gesegnet worden. An seine "leiblichen Bedürfnisse"
dachte Niemand, was kommen die in Betracht, wo es darauf ankam,
ihn des Himmels theilhaftig zu machen. Aber der Hunger thut gar
zu weh und Gebete sättigen nicht. Der Arme faßte den Entschluß,
sich an einen Reichen zu wenden, der mit ihm gebetet hatte und sehr
liebreich gewesen war. Er kam eben von Demselben zu mir und weinte
bitterlich. Was hatte der reiche christliche Bruder gethan? Als der
arme Mensch ihm vorgestellt, daß er bei der gegenwärtigen Kälte schon
seit drei Tagen nichts Warmes gegessen habe, speisete er ihn mit den
Worten ab, er werde sich dadurch des Paradieses beson¬
ders würdig machen, denn Adam und Eva hatten im
Paradiese auch keine warmen Speisen zu sich genom¬
men. Ich aber, dem das Christenthum beinahe abhanden gekommen,
war bestimmt, Samariterdienste zu thun und ich that sie recht gerne.
Nur Eins erwäge ich: hat man nicht die Pflicht, solche Tartüsses,
wie ich hier einen entdeckt, öffentlich an den Pranger zu stellen?

Seitdem die Lind ihren Gastrollencyclus geschlossen, hat Fräulein
Sophie Löwe einen solchen eröffnet und es schwebt nun die große Frage
vor dem Forum des geistreichen Berlin, seiner ästhetischen Theetische


und die Wirklichkeit nehmen wie sie ist. Mag die akademische Jugend
aufhören, mit dem Schein einer Freiheit zu spielen, die sie nicht be¬
sitzt. Mögen die Hubers, die Hävernicks, die Stahls allgemeiner
Universitätstypus werden; wir verlieren dabei Nichts, wir gewinnen
nur (?).

Und die preußischen Universitäten bleiben immer noch im Besitz
einer großen Freiheit, wenn man nur die richtigen Vergleiche anstellt.
Auch die Türkei und andere mohamedanische Staaten, z.B. Bochara,
haben eine Art von Hochschulen (Mcdrcssem); da sieht man erst, was
aus den Universitäten werden kann. Und nirgends ist das Verdum-
mungssystem einer Regierung wohl so grell hervorgetreten, als in
Modena und Sardinien, wo noch im Jahre 182» ein königliches Edict
das Lesen- und Schreiben-Lernen jedem, der sich nicht über den Besitz
von Lires (Francs) an Vermögen, und das Studiren jeden, ver¬
bot, der sich nicht über eben so viel an Renten ausweisen konnte.
Dergleichen ist in Preußen unmöglich. Wenn dieser Staat aber durch
seine Maßnahmen für das Universitätswesen Aufsehen erregt, so erfüllt
er dadurch nur ein Schicksal, welches die deutschen Universitäten sich
selbst zuzuschreiben haben. Das Schicksal ihres Servilismus soll er¬
füllt werden.

Ich will Ihnen eine kleine Geschichte von einem hiesigen From¬
men erzählen. Vor einigen Tagen, Morgens früh, tritt ein armer
Schneidergeselle, der ganz ohne Arbeit ist, in mein Zimmer und bittet
um eine kleine Gabe. Der arme Mensch war in seiner Noth einer
frommen Colonie in die Hände gefallen und von ihr mit Gesängen
und Tractätchen gesegnet worden. An seine „leiblichen Bedürfnisse"
dachte Niemand, was kommen die in Betracht, wo es darauf ankam,
ihn des Himmels theilhaftig zu machen. Aber der Hunger thut gar
zu weh und Gebete sättigen nicht. Der Arme faßte den Entschluß,
sich an einen Reichen zu wenden, der mit ihm gebetet hatte und sehr
liebreich gewesen war. Er kam eben von Demselben zu mir und weinte
bitterlich. Was hatte der reiche christliche Bruder gethan? Als der
arme Mensch ihm vorgestellt, daß er bei der gegenwärtigen Kälte schon
seit drei Tagen nichts Warmes gegessen habe, speisete er ihn mit den
Worten ab, er werde sich dadurch des Paradieses beson¬
ders würdig machen, denn Adam und Eva hatten im
Paradiese auch keine warmen Speisen zu sich genom¬
men. Ich aber, dem das Christenthum beinahe abhanden gekommen,
war bestimmt, Samariterdienste zu thun und ich that sie recht gerne.
Nur Eins erwäge ich: hat man nicht die Pflicht, solche Tartüsses,
wie ich hier einen entdeckt, öffentlich an den Pranger zu stellen?

Seitdem die Lind ihren Gastrollencyclus geschlossen, hat Fräulein
Sophie Löwe einen solchen eröffnet und es schwebt nun die große Frage
vor dem Forum des geistreichen Berlin, seiner ästhetischen Theetische


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[0031] und die Wirklichkeit nehmen wie sie ist. Mag die akademische Jugend aufhören, mit dem Schein einer Freiheit zu spielen, die sie nicht be¬ sitzt. Mögen die Hubers, die Hävernicks, die Stahls allgemeiner Universitätstypus werden; wir verlieren dabei Nichts, wir gewinnen nur (?). Und die preußischen Universitäten bleiben immer noch im Besitz einer großen Freiheit, wenn man nur die richtigen Vergleiche anstellt. Auch die Türkei und andere mohamedanische Staaten, z.B. Bochara, haben eine Art von Hochschulen (Mcdrcssem); da sieht man erst, was aus den Universitäten werden kann. Und nirgends ist das Verdum- mungssystem einer Regierung wohl so grell hervorgetreten, als in Modena und Sardinien, wo noch im Jahre 182» ein königliches Edict das Lesen- und Schreiben-Lernen jedem, der sich nicht über den Besitz von Lires (Francs) an Vermögen, und das Studiren jeden, ver¬ bot, der sich nicht über eben so viel an Renten ausweisen konnte. Dergleichen ist in Preußen unmöglich. Wenn dieser Staat aber durch seine Maßnahmen für das Universitätswesen Aufsehen erregt, so erfüllt er dadurch nur ein Schicksal, welches die deutschen Universitäten sich selbst zuzuschreiben haben. Das Schicksal ihres Servilismus soll er¬ füllt werden. Ich will Ihnen eine kleine Geschichte von einem hiesigen From¬ men erzählen. Vor einigen Tagen, Morgens früh, tritt ein armer Schneidergeselle, der ganz ohne Arbeit ist, in mein Zimmer und bittet um eine kleine Gabe. Der arme Mensch war in seiner Noth einer frommen Colonie in die Hände gefallen und von ihr mit Gesängen und Tractätchen gesegnet worden. An seine „leiblichen Bedürfnisse" dachte Niemand, was kommen die in Betracht, wo es darauf ankam, ihn des Himmels theilhaftig zu machen. Aber der Hunger thut gar zu weh und Gebete sättigen nicht. Der Arme faßte den Entschluß, sich an einen Reichen zu wenden, der mit ihm gebetet hatte und sehr liebreich gewesen war. Er kam eben von Demselben zu mir und weinte bitterlich. Was hatte der reiche christliche Bruder gethan? Als der arme Mensch ihm vorgestellt, daß er bei der gegenwärtigen Kälte schon seit drei Tagen nichts Warmes gegessen habe, speisete er ihn mit den Worten ab, er werde sich dadurch des Paradieses beson¬ ders würdig machen, denn Adam und Eva hatten im Paradiese auch keine warmen Speisen zu sich genom¬ men. Ich aber, dem das Christenthum beinahe abhanden gekommen, war bestimmt, Samariterdienste zu thun und ich that sie recht gerne. Nur Eins erwäge ich: hat man nicht die Pflicht, solche Tartüsses, wie ich hier einen entdeckt, öffentlich an den Pranger zu stellen? Seitdem die Lind ihren Gastrollencyclus geschlossen, hat Fräulein Sophie Löwe einen solchen eröffnet und es schwebt nun die große Frage vor dem Forum des geistreichen Berlin, seiner ästhetischen Theetische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/31>, abgerufen am 09.05.2024.