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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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Mag dieser Zug auch noch so engherzig, spießbürgerlich erscheinen; er ist
einmal vorhanden, und es läßt sich nicht über ihn hinausgehen. Das
ist zugleich der Punkt, an dem bisher die Wirkung der meisten Jour¬
nale gescheitert ist, der guten wie der schlechten. Die deutsche Jour¬
nalistik kann allerdings, wenn sie höhere Interessen verfolgen will,
um die 800,000 Kurhessen und ihren Hyperroyaliömus sich nicht
besonders kümmern; aber die Negierung, die natürlich die Bewah¬
rung dieses Elementes sich sehr angelegen sein läßt, kann um so leich¬
ter dann derlei Journale verbieten, ohne eine besondere Erbitterung
befürchten zu müssen.

Der hauptsächlichste Vorwurf, den man Hessen macht, ist poli¬
tische Erstarrung des Volkes, rcgungs- und bewegungslose Stagna¬
tion seines constitutionellen Lebens, ein Vorwurf, der sich nicht hin¬
wegleugnen, wohl aber sehr motiviren läßt. Noch vor fünfzehn Jah¬
ren hatte sich Alt-Hessen eines Wohlstandes zu erfreuen, wie man
ihn wohl in wenig andern, von der Natur gleich spärlich gesegneten
Ländern finden mochte; auch das ärmlichste Walddörfchen hatte
seinen reichlich nährenden Erwerbszweig -- die Linnenmanufactur.
Mutter und Töchter spannen den selbstgezogenen Flachs, der Vater
webte, der Sohn spukte, kaufte in den umliegenden Ortschaften Garn
ein, trug die fertige Leinwand in die nächste Stadt zum Kaufmann,
handelte hier die zum Haushalte nöthigen Waaren ein, und brachte
noch einen Sparpfennig als Ueberschuß mit nach Hause. Die Lin¬
nenhändler selbst, welche diese grobe Leinwand, sogenanntes Kauftuch
dann vermittelst der Werra oder Fulda nach Bremen verschifften, von
wo sie zum größten Theile nach Spanien ausgeführt wurde, machten
glänzende Geschäfte und brachten einen Reichthum in das Land,
dessen Spuren sogar durch die ungünstigsten Verhältnisse der folgen¬
den Zeit nicht völlig verwischt werden konnten. Von da an aber
stieg die Verarmung mit jedem Jahre in so entsetzlicher Schnelligkeit,
daß jetzt bereits die Noth unter dem niedern Bürger- und Bauern¬
stande eine Höhe erreicht hat, ganz ähnlich den dürftigsten Gegenden
des schlesischen Erzgebirges. Der Grund davon? -- die Politik. Ja!
die Bewohner Niederhessens sind der Politik geradezu geopfert wor¬
den. Da nämlich Preußen und somit der Zollverein den spanischen
Septemberthron nicht anerkannte, so brauchte Espartero die Repres¬
sivmaßregel, daß er die deutschen Leinen mit einem Zoll belegte, der


Mag dieser Zug auch noch so engherzig, spießbürgerlich erscheinen; er ist
einmal vorhanden, und es läßt sich nicht über ihn hinausgehen. Das
ist zugleich der Punkt, an dem bisher die Wirkung der meisten Jour¬
nale gescheitert ist, der guten wie der schlechten. Die deutsche Jour¬
nalistik kann allerdings, wenn sie höhere Interessen verfolgen will,
um die 800,000 Kurhessen und ihren Hyperroyaliömus sich nicht
besonders kümmern; aber die Negierung, die natürlich die Bewah¬
rung dieses Elementes sich sehr angelegen sein läßt, kann um so leich¬
ter dann derlei Journale verbieten, ohne eine besondere Erbitterung
befürchten zu müssen.

Der hauptsächlichste Vorwurf, den man Hessen macht, ist poli¬
tische Erstarrung des Volkes, rcgungs- und bewegungslose Stagna¬
tion seines constitutionellen Lebens, ein Vorwurf, der sich nicht hin¬
wegleugnen, wohl aber sehr motiviren läßt. Noch vor fünfzehn Jah¬
ren hatte sich Alt-Hessen eines Wohlstandes zu erfreuen, wie man
ihn wohl in wenig andern, von der Natur gleich spärlich gesegneten
Ländern finden mochte; auch das ärmlichste Walddörfchen hatte
seinen reichlich nährenden Erwerbszweig — die Linnenmanufactur.
Mutter und Töchter spannen den selbstgezogenen Flachs, der Vater
webte, der Sohn spukte, kaufte in den umliegenden Ortschaften Garn
ein, trug die fertige Leinwand in die nächste Stadt zum Kaufmann,
handelte hier die zum Haushalte nöthigen Waaren ein, und brachte
noch einen Sparpfennig als Ueberschuß mit nach Hause. Die Lin¬
nenhändler selbst, welche diese grobe Leinwand, sogenanntes Kauftuch
dann vermittelst der Werra oder Fulda nach Bremen verschifften, von
wo sie zum größten Theile nach Spanien ausgeführt wurde, machten
glänzende Geschäfte und brachten einen Reichthum in das Land,
dessen Spuren sogar durch die ungünstigsten Verhältnisse der folgen¬
den Zeit nicht völlig verwischt werden konnten. Von da an aber
stieg die Verarmung mit jedem Jahre in so entsetzlicher Schnelligkeit,
daß jetzt bereits die Noth unter dem niedern Bürger- und Bauern¬
stande eine Höhe erreicht hat, ganz ähnlich den dürftigsten Gegenden
des schlesischen Erzgebirges. Der Grund davon? — die Politik. Ja!
die Bewohner Niederhessens sind der Politik geradezu geopfert wor¬
den. Da nämlich Preußen und somit der Zollverein den spanischen
Septemberthron nicht anerkannte, so brauchte Espartero die Repres¬
sivmaßregel, daß er die deutschen Leinen mit einem Zoll belegte, der


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[0412] Mag dieser Zug auch noch so engherzig, spießbürgerlich erscheinen; er ist einmal vorhanden, und es läßt sich nicht über ihn hinausgehen. Das ist zugleich der Punkt, an dem bisher die Wirkung der meisten Jour¬ nale gescheitert ist, der guten wie der schlechten. Die deutsche Jour¬ nalistik kann allerdings, wenn sie höhere Interessen verfolgen will, um die 800,000 Kurhessen und ihren Hyperroyaliömus sich nicht besonders kümmern; aber die Negierung, die natürlich die Bewah¬ rung dieses Elementes sich sehr angelegen sein läßt, kann um so leich¬ ter dann derlei Journale verbieten, ohne eine besondere Erbitterung befürchten zu müssen. Der hauptsächlichste Vorwurf, den man Hessen macht, ist poli¬ tische Erstarrung des Volkes, rcgungs- und bewegungslose Stagna¬ tion seines constitutionellen Lebens, ein Vorwurf, der sich nicht hin¬ wegleugnen, wohl aber sehr motiviren läßt. Noch vor fünfzehn Jah¬ ren hatte sich Alt-Hessen eines Wohlstandes zu erfreuen, wie man ihn wohl in wenig andern, von der Natur gleich spärlich gesegneten Ländern finden mochte; auch das ärmlichste Walddörfchen hatte seinen reichlich nährenden Erwerbszweig — die Linnenmanufactur. Mutter und Töchter spannen den selbstgezogenen Flachs, der Vater webte, der Sohn spukte, kaufte in den umliegenden Ortschaften Garn ein, trug die fertige Leinwand in die nächste Stadt zum Kaufmann, handelte hier die zum Haushalte nöthigen Waaren ein, und brachte noch einen Sparpfennig als Ueberschuß mit nach Hause. Die Lin¬ nenhändler selbst, welche diese grobe Leinwand, sogenanntes Kauftuch dann vermittelst der Werra oder Fulda nach Bremen verschifften, von wo sie zum größten Theile nach Spanien ausgeführt wurde, machten glänzende Geschäfte und brachten einen Reichthum in das Land, dessen Spuren sogar durch die ungünstigsten Verhältnisse der folgen¬ den Zeit nicht völlig verwischt werden konnten. Von da an aber stieg die Verarmung mit jedem Jahre in so entsetzlicher Schnelligkeit, daß jetzt bereits die Noth unter dem niedern Bürger- und Bauern¬ stande eine Höhe erreicht hat, ganz ähnlich den dürftigsten Gegenden des schlesischen Erzgebirges. Der Grund davon? — die Politik. Ja! die Bewohner Niederhessens sind der Politik geradezu geopfert wor¬ den. Da nämlich Preußen und somit der Zollverein den spanischen Septemberthron nicht anerkannte, so brauchte Espartero die Repres¬ sivmaßregel, daß er die deutschen Leinen mit einem Zoll belegte, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/412>, abgerufen am 09.05.2024.