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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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ihre Einfuhr in Spanien fast ganz unmöglich macht. Die Kaufleute
Speichern in Bremen große Lager auf und können ihre Linnen nicht
absetzen, oder müssen sie endlich unter dem Preise losschlagen; die
nothwendige Folge davon ist, daß sie theils selbst Bankerott machen,
theils die armen Weber immer mehr herunterdrücken, so daß man¬
cher Landmann froh ist, wenn er seine wöchentliche Arbeit mir weni¬
gen Silbergroschen Nutzen verwerthen kann, während er früher zwei
bis drei Thaler verdiente. Und wenn so alle Körper- und Geistes¬
kräfte vom materiellen Erwerb absorbirt werden, und der redlichste
Wille, die unermüdlichste Anstrengung nicht ausreicht, um nur die
nothwendigsten Lebensbedürfnisse herbeizuschaffen, dann läßt sich eine
geistige Erhebung zu großartigen politischen Ideen nicht denken, wohl
aber die Verzweiflung erklären, mit der der Familienvater vor dem
herzzerreißenden Jammer seiner hungernden Kinder hinter den Schnaps¬
krug flieht, um Schmerz und Frieden zu gleicher Zeit zu ertödten.
Das ist das Loos eines Theiles des hessischen Volkes. Was hat
uns die Verfassung genutzt? fragen sie sich. Hat sie uns Brot
gegeben? Waren unsere Väter nicht glücklicher ohne dieselbe? --
So kommt es, daß das niedere Volk im Allgemeinen die wunder¬
lichsten, oder besser -- gar keine Begriffe davon hat, was Constitu-
tion und Landstände eigentlich wollen. Nur der Bürgermeister einer
Gemeinde, welcher schon eine höhere Bildungs- und Lurusstufe ein¬
nimmt, ist in dieser Beziehung völlig mit sich im Reinen; er ist fest
überzeugt, daß die ganze Verfassung nur deswegen gegeben wurde,
damit er "Bürgermeister" genannt werden konnte, während er sich
früher mit dem Titel "Schultheis" begnügen mußte. -- Auch der
höhere Bürgerstand, der gewiß den besten Willen hat, ermangelt so
sehr einer tieferen politischen Bildung, daß er sich nicht einmal selbst
zur Mündigkeit emporschwingen, geschweige denn einen bildenden Ein¬
fluß auf die niederen Gesellschaftsschichten ausüben kann, wie er doch
eigentlich sollte. In Folge des jämmerlichen Standpunktes, den die
kurhessische Journalistik einnimmt, greift er zu ausländischen Blättern,
und gerade die oberflächlichsten Winkelblätter, die den meisten Scan-
dal machen, sind ihm die liebsten.

Aber trotz dieser und anderer ungünstigen Verhältnisse nimmt
die kurhessische Ständeversammlung eine Stellung ein, die es in der
That nicht verdiente, dem Auslande zum Gespötte zu diene". Wir


ihre Einfuhr in Spanien fast ganz unmöglich macht. Die Kaufleute
Speichern in Bremen große Lager auf und können ihre Linnen nicht
absetzen, oder müssen sie endlich unter dem Preise losschlagen; die
nothwendige Folge davon ist, daß sie theils selbst Bankerott machen,
theils die armen Weber immer mehr herunterdrücken, so daß man¬
cher Landmann froh ist, wenn er seine wöchentliche Arbeit mir weni¬
gen Silbergroschen Nutzen verwerthen kann, während er früher zwei
bis drei Thaler verdiente. Und wenn so alle Körper- und Geistes¬
kräfte vom materiellen Erwerb absorbirt werden, und der redlichste
Wille, die unermüdlichste Anstrengung nicht ausreicht, um nur die
nothwendigsten Lebensbedürfnisse herbeizuschaffen, dann läßt sich eine
geistige Erhebung zu großartigen politischen Ideen nicht denken, wohl
aber die Verzweiflung erklären, mit der der Familienvater vor dem
herzzerreißenden Jammer seiner hungernden Kinder hinter den Schnaps¬
krug flieht, um Schmerz und Frieden zu gleicher Zeit zu ertödten.
Das ist das Loos eines Theiles des hessischen Volkes. Was hat
uns die Verfassung genutzt? fragen sie sich. Hat sie uns Brot
gegeben? Waren unsere Väter nicht glücklicher ohne dieselbe? —
So kommt es, daß das niedere Volk im Allgemeinen die wunder¬
lichsten, oder besser — gar keine Begriffe davon hat, was Constitu-
tion und Landstände eigentlich wollen. Nur der Bürgermeister einer
Gemeinde, welcher schon eine höhere Bildungs- und Lurusstufe ein¬
nimmt, ist in dieser Beziehung völlig mit sich im Reinen; er ist fest
überzeugt, daß die ganze Verfassung nur deswegen gegeben wurde,
damit er „Bürgermeister" genannt werden konnte, während er sich
früher mit dem Titel „Schultheis" begnügen mußte. — Auch der
höhere Bürgerstand, der gewiß den besten Willen hat, ermangelt so
sehr einer tieferen politischen Bildung, daß er sich nicht einmal selbst
zur Mündigkeit emporschwingen, geschweige denn einen bildenden Ein¬
fluß auf die niederen Gesellschaftsschichten ausüben kann, wie er doch
eigentlich sollte. In Folge des jämmerlichen Standpunktes, den die
kurhessische Journalistik einnimmt, greift er zu ausländischen Blättern,
und gerade die oberflächlichsten Winkelblätter, die den meisten Scan-
dal machen, sind ihm die liebsten.

Aber trotz dieser und anderer ungünstigen Verhältnisse nimmt
die kurhessische Ständeversammlung eine Stellung ein, die es in der
That nicht verdiente, dem Auslande zum Gespötte zu diene». Wir


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[0413] ihre Einfuhr in Spanien fast ganz unmöglich macht. Die Kaufleute Speichern in Bremen große Lager auf und können ihre Linnen nicht absetzen, oder müssen sie endlich unter dem Preise losschlagen; die nothwendige Folge davon ist, daß sie theils selbst Bankerott machen, theils die armen Weber immer mehr herunterdrücken, so daß man¬ cher Landmann froh ist, wenn er seine wöchentliche Arbeit mir weni¬ gen Silbergroschen Nutzen verwerthen kann, während er früher zwei bis drei Thaler verdiente. Und wenn so alle Körper- und Geistes¬ kräfte vom materiellen Erwerb absorbirt werden, und der redlichste Wille, die unermüdlichste Anstrengung nicht ausreicht, um nur die nothwendigsten Lebensbedürfnisse herbeizuschaffen, dann läßt sich eine geistige Erhebung zu großartigen politischen Ideen nicht denken, wohl aber die Verzweiflung erklären, mit der der Familienvater vor dem herzzerreißenden Jammer seiner hungernden Kinder hinter den Schnaps¬ krug flieht, um Schmerz und Frieden zu gleicher Zeit zu ertödten. Das ist das Loos eines Theiles des hessischen Volkes. Was hat uns die Verfassung genutzt? fragen sie sich. Hat sie uns Brot gegeben? Waren unsere Väter nicht glücklicher ohne dieselbe? — So kommt es, daß das niedere Volk im Allgemeinen die wunder¬ lichsten, oder besser — gar keine Begriffe davon hat, was Constitu- tion und Landstände eigentlich wollen. Nur der Bürgermeister einer Gemeinde, welcher schon eine höhere Bildungs- und Lurusstufe ein¬ nimmt, ist in dieser Beziehung völlig mit sich im Reinen; er ist fest überzeugt, daß die ganze Verfassung nur deswegen gegeben wurde, damit er „Bürgermeister" genannt werden konnte, während er sich früher mit dem Titel „Schultheis" begnügen mußte. — Auch der höhere Bürgerstand, der gewiß den besten Willen hat, ermangelt so sehr einer tieferen politischen Bildung, daß er sich nicht einmal selbst zur Mündigkeit emporschwingen, geschweige denn einen bildenden Ein¬ fluß auf die niederen Gesellschaftsschichten ausüben kann, wie er doch eigentlich sollte. In Folge des jämmerlichen Standpunktes, den die kurhessische Journalistik einnimmt, greift er zu ausländischen Blättern, und gerade die oberflächlichsten Winkelblätter, die den meisten Scan- dal machen, sind ihm die liebsten. Aber trotz dieser und anderer ungünstigen Verhältnisse nimmt die kurhessische Ständeversammlung eine Stellung ein, die es in der That nicht verdiente, dem Auslande zum Gespötte zu diene». Wir

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/413>, abgerufen am 20.05.2024.