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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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noch Mode, nicht mehr ausreichen für eine rege Theilnahme. Die
Lesewelt ist darüber Hinausgewachse"; sie will jetzt nur Handlung,
Stoff, Fülle -- das Beiwerk soll nichts thun als anrege", durchaus
nicht darlegen. Die Neflerion über allgemeine Verhältnisse und
Zustände ist jetzt der Reiscliteratur und den Memoiren als Bestand¬
theil übertragen worden; die Erzählung muß von solchen Einschieb¬
seln und Füllseln bis auf wenige Seiten befreit sein, sie soll eben
nur ein volles, frisches, lebendiges Bild des Lebens geben. Es ist
aber bemerkenswerth, daß diese Wandlung des Geschmacks und der
Anforderung von den Frauen immerhin minder erkannt ist, als von
den Männern; und hätten die Frauen nicht selbst ihre produktive
Literatur als "organische Emancipation" bezeichnet, so möchte man
leicht glauben, sie wollten auch jetzt noch, wie früher, als Dilettan¬
tinten, als Individualitäten betrachtet sein und nicht als Potenzen
gelten. Doch eben jene Frau, welche darauf den meisten Anspruch
macht, seit sie vor verhnltnißmäßig wenigen Jahren so mit beiden
Füßen hereingesprungen ist in die Arme der Literatur, und welche
alle Moden der letzten Jahre in ihrer Weise repräsentirte, sie hat
das Verständniß dieser neuesten Anforderungen fort und fort weniger
bewährt, als ihr früheres Auftreten erwarten ließ. Ich meine näm¬
lich die Gräfin Jda Hahn-Hahn.

"Zwei Frauen" heißt ihr neuestes Werk, welches immer wie¬
der den allbekannten Stoff behandelt: Frauen, die erst in einer un¬
glücklichen Ehe zum Bewußtsein ihrer selbst kommen und dessen, wo¬
nach sie recht eigentlich streben. Daraus entwickelt sich dann die
Tragik der Hahn'schen Romane. Diese Stabilität der Gräfin Hahn-
Hahn wird nachgerade bedenklich. Sie dreht und wendet diesen
einen Stoff, sie sucht ihn immer wieder unter andern Gesichtspunk¬
ten aufzufassen und sie wird doch niemals mit ihm fertig. Man hat
die Gräfin neuerdings allgemein sehr bitter getadelt, und dieselbe
Kritik, welche früher Hosianna!) rief, schreit jetzt beim Erscheinen jedes
neuen Buches derselben ein vernichtendes Kreuziget. Ich habe die
Gräfin Hahn-Hahn als Schriftstellerin eigenlich niemals geliebt und
doch kann ich jetzt nicht so unbedingt in jenes I-l um-t "ans piii-sse
einstimmen. Denn sie hat zwei Vorzüge, die ihr als Frau, als ab¬
sichtlicher Aristokratin und als Schriftstellerin außerordentlich hoch an¬
zurechnen sind. Das ist ein gewisser rücksichtsloser Muth und eine


noch Mode, nicht mehr ausreichen für eine rege Theilnahme. Die
Lesewelt ist darüber Hinausgewachse»; sie will jetzt nur Handlung,
Stoff, Fülle — das Beiwerk soll nichts thun als anrege», durchaus
nicht darlegen. Die Neflerion über allgemeine Verhältnisse und
Zustände ist jetzt der Reiscliteratur und den Memoiren als Bestand¬
theil übertragen worden; die Erzählung muß von solchen Einschieb¬
seln und Füllseln bis auf wenige Seiten befreit sein, sie soll eben
nur ein volles, frisches, lebendiges Bild des Lebens geben. Es ist
aber bemerkenswerth, daß diese Wandlung des Geschmacks und der
Anforderung von den Frauen immerhin minder erkannt ist, als von
den Männern; und hätten die Frauen nicht selbst ihre produktive
Literatur als „organische Emancipation" bezeichnet, so möchte man
leicht glauben, sie wollten auch jetzt noch, wie früher, als Dilettan¬
tinten, als Individualitäten betrachtet sein und nicht als Potenzen
gelten. Doch eben jene Frau, welche darauf den meisten Anspruch
macht, seit sie vor verhnltnißmäßig wenigen Jahren so mit beiden
Füßen hereingesprungen ist in die Arme der Literatur, und welche
alle Moden der letzten Jahre in ihrer Weise repräsentirte, sie hat
das Verständniß dieser neuesten Anforderungen fort und fort weniger
bewährt, als ihr früheres Auftreten erwarten ließ. Ich meine näm¬
lich die Gräfin Jda Hahn-Hahn.

„Zwei Frauen" heißt ihr neuestes Werk, welches immer wie¬
der den allbekannten Stoff behandelt: Frauen, die erst in einer un¬
glücklichen Ehe zum Bewußtsein ihrer selbst kommen und dessen, wo¬
nach sie recht eigentlich streben. Daraus entwickelt sich dann die
Tragik der Hahn'schen Romane. Diese Stabilität der Gräfin Hahn-
Hahn wird nachgerade bedenklich. Sie dreht und wendet diesen
einen Stoff, sie sucht ihn immer wieder unter andern Gesichtspunk¬
ten aufzufassen und sie wird doch niemals mit ihm fertig. Man hat
die Gräfin neuerdings allgemein sehr bitter getadelt, und dieselbe
Kritik, welche früher Hosianna!) rief, schreit jetzt beim Erscheinen jedes
neuen Buches derselben ein vernichtendes Kreuziget. Ich habe die
Gräfin Hahn-Hahn als Schriftstellerin eigenlich niemals geliebt und
doch kann ich jetzt nicht so unbedingt in jenes I-l um-t «ans piii-sse
einstimmen. Denn sie hat zwei Vorzüge, die ihr als Frau, als ab¬
sichtlicher Aristokratin und als Schriftstellerin außerordentlich hoch an¬
zurechnen sind. Das ist ein gewisser rücksichtsloser Muth und eine


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[0518] noch Mode, nicht mehr ausreichen für eine rege Theilnahme. Die Lesewelt ist darüber Hinausgewachse»; sie will jetzt nur Handlung, Stoff, Fülle — das Beiwerk soll nichts thun als anrege», durchaus nicht darlegen. Die Neflerion über allgemeine Verhältnisse und Zustände ist jetzt der Reiscliteratur und den Memoiren als Bestand¬ theil übertragen worden; die Erzählung muß von solchen Einschieb¬ seln und Füllseln bis auf wenige Seiten befreit sein, sie soll eben nur ein volles, frisches, lebendiges Bild des Lebens geben. Es ist aber bemerkenswerth, daß diese Wandlung des Geschmacks und der Anforderung von den Frauen immerhin minder erkannt ist, als von den Männern; und hätten die Frauen nicht selbst ihre produktive Literatur als „organische Emancipation" bezeichnet, so möchte man leicht glauben, sie wollten auch jetzt noch, wie früher, als Dilettan¬ tinten, als Individualitäten betrachtet sein und nicht als Potenzen gelten. Doch eben jene Frau, welche darauf den meisten Anspruch macht, seit sie vor verhnltnißmäßig wenigen Jahren so mit beiden Füßen hereingesprungen ist in die Arme der Literatur, und welche alle Moden der letzten Jahre in ihrer Weise repräsentirte, sie hat das Verständniß dieser neuesten Anforderungen fort und fort weniger bewährt, als ihr früheres Auftreten erwarten ließ. Ich meine näm¬ lich die Gräfin Jda Hahn-Hahn. „Zwei Frauen" heißt ihr neuestes Werk, welches immer wie¬ der den allbekannten Stoff behandelt: Frauen, die erst in einer un¬ glücklichen Ehe zum Bewußtsein ihrer selbst kommen und dessen, wo¬ nach sie recht eigentlich streben. Daraus entwickelt sich dann die Tragik der Hahn'schen Romane. Diese Stabilität der Gräfin Hahn- Hahn wird nachgerade bedenklich. Sie dreht und wendet diesen einen Stoff, sie sucht ihn immer wieder unter andern Gesichtspunk¬ ten aufzufassen und sie wird doch niemals mit ihm fertig. Man hat die Gräfin neuerdings allgemein sehr bitter getadelt, und dieselbe Kritik, welche früher Hosianna!) rief, schreit jetzt beim Erscheinen jedes neuen Buches derselben ein vernichtendes Kreuziget. Ich habe die Gräfin Hahn-Hahn als Schriftstellerin eigenlich niemals geliebt und doch kann ich jetzt nicht so unbedingt in jenes I-l um-t «ans piii-sse einstimmen. Denn sie hat zwei Vorzüge, die ihr als Frau, als ab¬ sichtlicher Aristokratin und als Schriftstellerin außerordentlich hoch an¬ zurechnen sind. Das ist ein gewisser rücksichtsloser Muth und eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/518>, abgerufen am 09.05.2024.