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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band.

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gewisse subjektive, ehrliche Wahrheit. Sie hat den Muth, zu sagen,
was sie denkt und wirklich just so, wie sie'ö denkt; sie hat die
Ehrlichkeit, zu erzählen: So und so sind die Menschen, unter denen
ich geboren bin und welche Aristokratie machen, dies und dies hal¬
ten sie von Euch, und Solches und Solches ist Eure Geltung "in
der Gesellschaft." Aber sie selber steht nicht außerhalb, noch weniger
über dieser Gesellschaft; sie steht mitten darunter und möchte doch
gern heraus, Wenn's nur anginge, ohne sich der Populäre zu nähern.
Daraus hat sich bei ihr ein gewisses Etwas, ein nach allen Seiten
hin Verletzendes herausgebildet, ihr selbst halb bewußt, aber nicht in
seinen Ursprüngen lind Wirkungen von ihr erkannt. Früher war sie
ein Gamin weiblichen Geschlechts in der aristokratischen Schriftstel¬
lerinnenwelt; allein diese damalige Unbefangenheit hat sie verloren
und dabei doch alle Behabung jener Zeit beibehalten. Dieser Wi¬
derspruch ist in ihr dasjenige, was ihr in neuerer Zeit so viele kri¬
tische Feinde machte und ihr die Sympathie der Lesewelt entfremdete;
ihre eigenthümlichen Reize sind der Kritik längst bekannt und ge¬
wohnt, die Lesewelt weiß ihre Anschauungsweise auswendig, und Alle
wollen nun endlich deren Resultate sehen. Diese aber kommen nie¬
mals, während doch in jeder neufolgenden Schrift der Anspruch auf
unbedingte Anerkenntniß der Schriftstellerin Hahn-Hahn immer
schroffer hervorspringt. Auch in diesem neuen Roman ist keinerlei
Abschluß und keinerlei ästhetisches Resultat zu gewahren. Er könnte
eben so gut vor "Jlda Schvnholm," vor "der Rechte," vor "Fau¬
stine" geschrieben sein, als er ihnen nachgefolgt ist. Die ganzen al¬
ten Fehler der Construction des Ganzen und der Sprachweise im
Einzelnen, die ganzen alten Vorzüge des plötzlichen, geistreichen Rai-
sonnements und der brillirenden Reflexion -- doch nirgends etwas
Neues, nirgends etwas Ueberraschendes, nirgends die Abrundung
fortgeschrittener künstlerischer Ausbildung. Wer die Hahn-Hahn'sche
Manier liebt, wird den Roman wahrscheinlich mit demselben Interesse
lesen, wie die frühern; die Kritik kann ihn nicht loben. Die Gräfin
ist nicht mehr echt, und die Schriftstellerin ist noch nicht echt. Echt
soll und muß aber das Eine bleiben, sonst werden beide bedeutungs¬
los. Es ist in Joa Hahn-Hahn kein inneres Element der Fort¬
bildung, sie hat blos die "Allüren" derselben und gibt statt wahrer
Bewegungen allzu häusig "Emotionen." Gräfin Hahn-Hahn steht auf
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gewisse subjektive, ehrliche Wahrheit. Sie hat den Muth, zu sagen,
was sie denkt und wirklich just so, wie sie'ö denkt; sie hat die
Ehrlichkeit, zu erzählen: So und so sind die Menschen, unter denen
ich geboren bin und welche Aristokratie machen, dies und dies hal¬
ten sie von Euch, und Solches und Solches ist Eure Geltung „in
der Gesellschaft." Aber sie selber steht nicht außerhalb, noch weniger
über dieser Gesellschaft; sie steht mitten darunter und möchte doch
gern heraus, Wenn's nur anginge, ohne sich der Populäre zu nähern.
Daraus hat sich bei ihr ein gewisses Etwas, ein nach allen Seiten
hin Verletzendes herausgebildet, ihr selbst halb bewußt, aber nicht in
seinen Ursprüngen lind Wirkungen von ihr erkannt. Früher war sie
ein Gamin weiblichen Geschlechts in der aristokratischen Schriftstel¬
lerinnenwelt; allein diese damalige Unbefangenheit hat sie verloren
und dabei doch alle Behabung jener Zeit beibehalten. Dieser Wi¬
derspruch ist in ihr dasjenige, was ihr in neuerer Zeit so viele kri¬
tische Feinde machte und ihr die Sympathie der Lesewelt entfremdete;
ihre eigenthümlichen Reize sind der Kritik längst bekannt und ge¬
wohnt, die Lesewelt weiß ihre Anschauungsweise auswendig, und Alle
wollen nun endlich deren Resultate sehen. Diese aber kommen nie¬
mals, während doch in jeder neufolgenden Schrift der Anspruch auf
unbedingte Anerkenntniß der Schriftstellerin Hahn-Hahn immer
schroffer hervorspringt. Auch in diesem neuen Roman ist keinerlei
Abschluß und keinerlei ästhetisches Resultat zu gewahren. Er könnte
eben so gut vor „Jlda Schvnholm," vor „der Rechte," vor „Fau¬
stine" geschrieben sein, als er ihnen nachgefolgt ist. Die ganzen al¬
ten Fehler der Construction des Ganzen und der Sprachweise im
Einzelnen, die ganzen alten Vorzüge des plötzlichen, geistreichen Rai-
sonnements und der brillirenden Reflexion — doch nirgends etwas
Neues, nirgends etwas Ueberraschendes, nirgends die Abrundung
fortgeschrittener künstlerischer Ausbildung. Wer die Hahn-Hahn'sche
Manier liebt, wird den Roman wahrscheinlich mit demselben Interesse
lesen, wie die frühern; die Kritik kann ihn nicht loben. Die Gräfin
ist nicht mehr echt, und die Schriftstellerin ist noch nicht echt. Echt
soll und muß aber das Eine bleiben, sonst werden beide bedeutungs¬
los. Es ist in Joa Hahn-Hahn kein inneres Element der Fort¬
bildung, sie hat blos die „Allüren" derselben und gibt statt wahrer
Bewegungen allzu häusig „Emotionen." Gräfin Hahn-Hahn steht auf
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[0519] gewisse subjektive, ehrliche Wahrheit. Sie hat den Muth, zu sagen, was sie denkt und wirklich just so, wie sie'ö denkt; sie hat die Ehrlichkeit, zu erzählen: So und so sind die Menschen, unter denen ich geboren bin und welche Aristokratie machen, dies und dies hal¬ ten sie von Euch, und Solches und Solches ist Eure Geltung „in der Gesellschaft." Aber sie selber steht nicht außerhalb, noch weniger über dieser Gesellschaft; sie steht mitten darunter und möchte doch gern heraus, Wenn's nur anginge, ohne sich der Populäre zu nähern. Daraus hat sich bei ihr ein gewisses Etwas, ein nach allen Seiten hin Verletzendes herausgebildet, ihr selbst halb bewußt, aber nicht in seinen Ursprüngen lind Wirkungen von ihr erkannt. Früher war sie ein Gamin weiblichen Geschlechts in der aristokratischen Schriftstel¬ lerinnenwelt; allein diese damalige Unbefangenheit hat sie verloren und dabei doch alle Behabung jener Zeit beibehalten. Dieser Wi¬ derspruch ist in ihr dasjenige, was ihr in neuerer Zeit so viele kri¬ tische Feinde machte und ihr die Sympathie der Lesewelt entfremdete; ihre eigenthümlichen Reize sind der Kritik längst bekannt und ge¬ wohnt, die Lesewelt weiß ihre Anschauungsweise auswendig, und Alle wollen nun endlich deren Resultate sehen. Diese aber kommen nie¬ mals, während doch in jeder neufolgenden Schrift der Anspruch auf unbedingte Anerkenntniß der Schriftstellerin Hahn-Hahn immer schroffer hervorspringt. Auch in diesem neuen Roman ist keinerlei Abschluß und keinerlei ästhetisches Resultat zu gewahren. Er könnte eben so gut vor „Jlda Schvnholm," vor „der Rechte," vor „Fau¬ stine" geschrieben sein, als er ihnen nachgefolgt ist. Die ganzen al¬ ten Fehler der Construction des Ganzen und der Sprachweise im Einzelnen, die ganzen alten Vorzüge des plötzlichen, geistreichen Rai- sonnements und der brillirenden Reflexion — doch nirgends etwas Neues, nirgends etwas Ueberraschendes, nirgends die Abrundung fortgeschrittener künstlerischer Ausbildung. Wer die Hahn-Hahn'sche Manier liebt, wird den Roman wahrscheinlich mit demselben Interesse lesen, wie die frühern; die Kritik kann ihn nicht loben. Die Gräfin ist nicht mehr echt, und die Schriftstellerin ist noch nicht echt. Echt soll und muß aber das Eine bleiben, sonst werden beide bedeutungs¬ los. Es ist in Joa Hahn-Hahn kein inneres Element der Fort¬ bildung, sie hat blos die „Allüren" derselben und gibt statt wahrer Bewegungen allzu häusig „Emotionen." Gräfin Hahn-Hahn steht auf * 66

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_270058/519>, abgerufen am 20.05.2024.