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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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die Geschichte jenes polnischen Juden, der als Herrscher über Palä¬
stina, Chaldäa, Aethiopien und Aegypten gestorben ist; nämlich als
geistlicher Herrscher. Die Grenzboten haben bereits in einem frühern
Jahrgange die Biographie des Bischofs Alexander von Jerusalem mit¬
getheilt, der, im Großherzogthum Posen (1799) geboren, als ein or¬
thodox erzogener, armer Hausirer nach London kam, dort anglicani-
scher Christ, Professor des Hebräischen und endlich Oberhaupt des
neugegründeten englisch-preußischen Bisthums in Palästina wurde.
Die frommen polnischen Juden pflegten sonst eine lebhafte Sehnsucht
nach dem Lande ihrer Urvater zu empfinden, und nicht selten gab es
Pilger, die noch in alten Tagen aus Polen bis nach dem Thale Jo-
saphat wanderten, um entweder dort zu sterben, oder ein Säckchen,
mit heiliger Erde gefüllt, heimzubringen, welches ihnen nach dem Tode
als Kopfkissen im Grabe dienen sollte. Nun, Alexander hatte viel¬
leicht in seiner Jugend ähnliche Phantasien, ohne zu ahnen, auf wel¬
chen Umwegen und in welcher Metamorphose er zu ihrer Erfüllung
kommen sollte. Wie man hört, hat Alexander, als Missionar der
anglicanischen Kirche, in Palästina nur wenige Proselyten gemacht,
gar keine aber unter den eingeborenen Juden, die ihn, trotz seiner
persönlichen Gutmüthigkeit, als einen abtrünnigen und falschen Pro¬
pheten verabscheuten. Ueber die Aufrichtigkeit seines apostolischen
Feuereifers erlaubten sich auch englische Stimmen kein entscheidendes
Urtheil; wie der bekannte Missionar Wolf und wie die meisten klei¬
nen Paulusse, die in dem Institut zu Hackney in London gebildet
werden, schien er halb Schwärmer, halb Abenteurer. Er starb auf
dem Wege nach Cairo, in derselben Wüste, durch welche einst die
Juden aus Aegypten kamen, und äußerte den lebhaften Wunsch, in
Jerusalem begraben zu werden. Jedenfalls wäre es interessant, die
Erinnerungen, die Bilder und Gedanken zu kennen, die in seinen
letzten Augenblicken ihn beschäftigten. Wir entsinnen uns wenigstens
nicht, daß einer von den vielen Romanschreibern neuerer Zeit, welche
die Romantik der Judengasse ausbeuteten, eine so merkwürdige Si¬
tuation erfunden und ein so fruchtbares psychologisches Thema be¬
handelt hätte.

-- Wie soll man nicht allen Glauben verlieren, wenn man
sieht, wie nichtig Legenden und Traditionen sind? Oder, wie soll
man nicht alle Wissenschaft verketzern, wenn man sieht, welches Un¬
heil sie täglich unter dem Spielzeug unserer Kinderjahre anrichtet?
Die freie Forschung wird nicht mit Unrecht als ein wahrer Knecht
Ruprecht angesehen von allen frommen und bequemen Seelen. Nicht
blos die Forschung auf historischem, theologischen und philosophischem
Felde ist anstößig, nicht blos die Niebuhrs, die Strauße und Bauers,
sondern selbst die^Geologen und Naturforscher, die sich so unschuldig


die Geschichte jenes polnischen Juden, der als Herrscher über Palä¬
stina, Chaldäa, Aethiopien und Aegypten gestorben ist; nämlich als
geistlicher Herrscher. Die Grenzboten haben bereits in einem frühern
Jahrgange die Biographie des Bischofs Alexander von Jerusalem mit¬
getheilt, der, im Großherzogthum Posen (1799) geboren, als ein or¬
thodox erzogener, armer Hausirer nach London kam, dort anglicani-
scher Christ, Professor des Hebräischen und endlich Oberhaupt des
neugegründeten englisch-preußischen Bisthums in Palästina wurde.
Die frommen polnischen Juden pflegten sonst eine lebhafte Sehnsucht
nach dem Lande ihrer Urvater zu empfinden, und nicht selten gab es
Pilger, die noch in alten Tagen aus Polen bis nach dem Thale Jo-
saphat wanderten, um entweder dort zu sterben, oder ein Säckchen,
mit heiliger Erde gefüllt, heimzubringen, welches ihnen nach dem Tode
als Kopfkissen im Grabe dienen sollte. Nun, Alexander hatte viel¬
leicht in seiner Jugend ähnliche Phantasien, ohne zu ahnen, auf wel¬
chen Umwegen und in welcher Metamorphose er zu ihrer Erfüllung
kommen sollte. Wie man hört, hat Alexander, als Missionar der
anglicanischen Kirche, in Palästina nur wenige Proselyten gemacht,
gar keine aber unter den eingeborenen Juden, die ihn, trotz seiner
persönlichen Gutmüthigkeit, als einen abtrünnigen und falschen Pro¬
pheten verabscheuten. Ueber die Aufrichtigkeit seines apostolischen
Feuereifers erlaubten sich auch englische Stimmen kein entscheidendes
Urtheil; wie der bekannte Missionar Wolf und wie die meisten klei¬
nen Paulusse, die in dem Institut zu Hackney in London gebildet
werden, schien er halb Schwärmer, halb Abenteurer. Er starb auf
dem Wege nach Cairo, in derselben Wüste, durch welche einst die
Juden aus Aegypten kamen, und äußerte den lebhaften Wunsch, in
Jerusalem begraben zu werden. Jedenfalls wäre es interessant, die
Erinnerungen, die Bilder und Gedanken zu kennen, die in seinen
letzten Augenblicken ihn beschäftigten. Wir entsinnen uns wenigstens
nicht, daß einer von den vielen Romanschreibern neuerer Zeit, welche
die Romantik der Judengasse ausbeuteten, eine so merkwürdige Si¬
tuation erfunden und ein so fruchtbares psychologisches Thema be¬
handelt hätte.

— Wie soll man nicht allen Glauben verlieren, wenn man
sieht, wie nichtig Legenden und Traditionen sind? Oder, wie soll
man nicht alle Wissenschaft verketzern, wenn man sieht, welches Un¬
heil sie täglich unter dem Spielzeug unserer Kinderjahre anrichtet?
Die freie Forschung wird nicht mit Unrecht als ein wahrer Knecht
Ruprecht angesehen von allen frommen und bequemen Seelen. Nicht
blos die Forschung auf historischem, theologischen und philosophischem
Felde ist anstößig, nicht blos die Niebuhrs, die Strauße und Bauers,
sondern selbst die^Geologen und Naturforscher, die sich so unschuldig


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[0149] die Geschichte jenes polnischen Juden, der als Herrscher über Palä¬ stina, Chaldäa, Aethiopien und Aegypten gestorben ist; nämlich als geistlicher Herrscher. Die Grenzboten haben bereits in einem frühern Jahrgange die Biographie des Bischofs Alexander von Jerusalem mit¬ getheilt, der, im Großherzogthum Posen (1799) geboren, als ein or¬ thodox erzogener, armer Hausirer nach London kam, dort anglicani- scher Christ, Professor des Hebräischen und endlich Oberhaupt des neugegründeten englisch-preußischen Bisthums in Palästina wurde. Die frommen polnischen Juden pflegten sonst eine lebhafte Sehnsucht nach dem Lande ihrer Urvater zu empfinden, und nicht selten gab es Pilger, die noch in alten Tagen aus Polen bis nach dem Thale Jo- saphat wanderten, um entweder dort zu sterben, oder ein Säckchen, mit heiliger Erde gefüllt, heimzubringen, welches ihnen nach dem Tode als Kopfkissen im Grabe dienen sollte. Nun, Alexander hatte viel¬ leicht in seiner Jugend ähnliche Phantasien, ohne zu ahnen, auf wel¬ chen Umwegen und in welcher Metamorphose er zu ihrer Erfüllung kommen sollte. Wie man hört, hat Alexander, als Missionar der anglicanischen Kirche, in Palästina nur wenige Proselyten gemacht, gar keine aber unter den eingeborenen Juden, die ihn, trotz seiner persönlichen Gutmüthigkeit, als einen abtrünnigen und falschen Pro¬ pheten verabscheuten. Ueber die Aufrichtigkeit seines apostolischen Feuereifers erlaubten sich auch englische Stimmen kein entscheidendes Urtheil; wie der bekannte Missionar Wolf und wie die meisten klei¬ nen Paulusse, die in dem Institut zu Hackney in London gebildet werden, schien er halb Schwärmer, halb Abenteurer. Er starb auf dem Wege nach Cairo, in derselben Wüste, durch welche einst die Juden aus Aegypten kamen, und äußerte den lebhaften Wunsch, in Jerusalem begraben zu werden. Jedenfalls wäre es interessant, die Erinnerungen, die Bilder und Gedanken zu kennen, die in seinen letzten Augenblicken ihn beschäftigten. Wir entsinnen uns wenigstens nicht, daß einer von den vielen Romanschreibern neuerer Zeit, welche die Romantik der Judengasse ausbeuteten, eine so merkwürdige Si¬ tuation erfunden und ein so fruchtbares psychologisches Thema be¬ handelt hätte. — Wie soll man nicht allen Glauben verlieren, wenn man sieht, wie nichtig Legenden und Traditionen sind? Oder, wie soll man nicht alle Wissenschaft verketzern, wenn man sieht, welches Un¬ heil sie täglich unter dem Spielzeug unserer Kinderjahre anrichtet? Die freie Forschung wird nicht mit Unrecht als ein wahrer Knecht Ruprecht angesehen von allen frommen und bequemen Seelen. Nicht blos die Forschung auf historischem, theologischen und philosophischem Felde ist anstößig, nicht blos die Niebuhrs, die Strauße und Bauers, sondern selbst die^Geologen und Naturforscher, die sich so unschuldig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/149>, abgerufen am 14.05.2024.