Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

stellen und jährlich mit bundestäglicher Erlaubniß Versammlungen
und Aweckessen halten, waren von jeher die schrecklichsten Störcsriede,
die unangenehmsten Bibelkritiker. Das hat noch neulich der gefeierte
Humboldt durch seinen Kosmos gezeigt. Es wird aber immer ärger.
Die freie Forschung versetzt Berge; die ehrwürdigsten Häupter der
Tradition fangen an zu wackeln. Jetzt hat der berühmte or. Robert
Lepsius, wenn man der Augsburger Allgemeinen Zeitung glauben
will, sogar den Berg Sinai -- abgesetzt. Ja, den Berg Sinai,
auf dessen Spitze Moses mit Jehovah gesprochen hat, von dessen
Gipfel die zehn Gebote proclamirt wurden, auf dem überhaupt jene
Offenbarung stattfand, über deren Authenticität und unmittelbar
überirdische Natur sich so Viele den Kopf zerbrochen haben und auch
jetzt so viele Forscher sich in den Haaren liegen, -- diesen Berg Si¬
nai hat Lepsius angegriffen. An seiner Entschuldigung dient aller¬
dings, daß bereits vor ihm einige Reisende, wie Burckhardt und Leon
Laborde, sich an dem heiligen Berge mit unmaßgeblichen Vermuthun¬
gen und Zweifeln vergriffen haben. Lepstus aber beweist mit Be¬
stimmtheit, daß der sogenannte Berg Sinai gar nicht der rechte, son¬
dern ein falscher Prätendent, ein Pseudosinai ist. Der wahre Sinai
liegt über zwei Tagereisen weit entfernt von dem angeblichen, ist von
einer wunderbaren Vegetation umgeben, sechstausend Fuß hoch, und
verbirgt sein heiliges, bemoostes Haupt in den Wolken; unter den
anwohnenden Araberstämmen ist er unter dem Jncognitonamen Ser-
bal bekannt. Also gegen zweitausend Jahre lang hat sich der Pseudo¬
sinai bewundern und verehren, von zahllosen Pilgern seine ganz pro¬
fanen Füße küssen, mit Eremitagen, Calvarienberglein und Kreuzen,
ja sogar mit einem großen Catharinenkloster beschenken und schmücken
lassen, ohne die unverdienten Gaben abzulehnen. Die Steine haben
nicht geredet, und der wahre Sinai stand seitwärts, wie ein Gerech¬
ter, der verkannt wird und schweigt. So geht es in der Welt. Viel¬
leicht hat Serbal alle jene Huldigungen einer nur zu oft blos äußer¬
lichen Frömmigkeit verschmäht. Wo nicht, so hat er mit seiner Ent¬
hüllung sich verspätet, und seine Anerkennung fällt in eine Zeit, die
fo erhabene, alte Häupter höchstens durch die Lorgnette besieht als
mythologisch-antiquarische Raritäten, oder sie nur im Stahlstich eines
malerisch-romantischen Reisewerkes bewundert.

-- Die Augsburger Allgemeine bringt einen Artikel über die
Stellung und die sittlichen Zustände der russisch-griechischen Kirche,
den sie vermuthlich nur aufgenommen hat, um unseren guten Freun¬
den im Norden ein Tröpflein Balsam zu reichen, für die Wunden,
die sie dem Ansehen derselben durch frühere Darstellungen beigebracht
hat. Der Versasser, -- ein Geistesverwandter jenes schlauen, ver¬
mittelnden Friedenspublicisten, der vor einem Jahre als "guter Deut-


stellen und jährlich mit bundestäglicher Erlaubniß Versammlungen
und Aweckessen halten, waren von jeher die schrecklichsten Störcsriede,
die unangenehmsten Bibelkritiker. Das hat noch neulich der gefeierte
Humboldt durch seinen Kosmos gezeigt. Es wird aber immer ärger.
Die freie Forschung versetzt Berge; die ehrwürdigsten Häupter der
Tradition fangen an zu wackeln. Jetzt hat der berühmte or. Robert
Lepsius, wenn man der Augsburger Allgemeinen Zeitung glauben
will, sogar den Berg Sinai — abgesetzt. Ja, den Berg Sinai,
auf dessen Spitze Moses mit Jehovah gesprochen hat, von dessen
Gipfel die zehn Gebote proclamirt wurden, auf dem überhaupt jene
Offenbarung stattfand, über deren Authenticität und unmittelbar
überirdische Natur sich so Viele den Kopf zerbrochen haben und auch
jetzt so viele Forscher sich in den Haaren liegen, — diesen Berg Si¬
nai hat Lepsius angegriffen. An seiner Entschuldigung dient aller¬
dings, daß bereits vor ihm einige Reisende, wie Burckhardt und Leon
Laborde, sich an dem heiligen Berge mit unmaßgeblichen Vermuthun¬
gen und Zweifeln vergriffen haben. Lepstus aber beweist mit Be¬
stimmtheit, daß der sogenannte Berg Sinai gar nicht der rechte, son¬
dern ein falscher Prätendent, ein Pseudosinai ist. Der wahre Sinai
liegt über zwei Tagereisen weit entfernt von dem angeblichen, ist von
einer wunderbaren Vegetation umgeben, sechstausend Fuß hoch, und
verbirgt sein heiliges, bemoostes Haupt in den Wolken; unter den
anwohnenden Araberstämmen ist er unter dem Jncognitonamen Ser-
bal bekannt. Also gegen zweitausend Jahre lang hat sich der Pseudo¬
sinai bewundern und verehren, von zahllosen Pilgern seine ganz pro¬
fanen Füße küssen, mit Eremitagen, Calvarienberglein und Kreuzen,
ja sogar mit einem großen Catharinenkloster beschenken und schmücken
lassen, ohne die unverdienten Gaben abzulehnen. Die Steine haben
nicht geredet, und der wahre Sinai stand seitwärts, wie ein Gerech¬
ter, der verkannt wird und schweigt. So geht es in der Welt. Viel¬
leicht hat Serbal alle jene Huldigungen einer nur zu oft blos äußer¬
lichen Frömmigkeit verschmäht. Wo nicht, so hat er mit seiner Ent¬
hüllung sich verspätet, und seine Anerkennung fällt in eine Zeit, die
fo erhabene, alte Häupter höchstens durch die Lorgnette besieht als
mythologisch-antiquarische Raritäten, oder sie nur im Stahlstich eines
malerisch-romantischen Reisewerkes bewundert.

— Die Augsburger Allgemeine bringt einen Artikel über die
Stellung und die sittlichen Zustände der russisch-griechischen Kirche,
den sie vermuthlich nur aufgenommen hat, um unseren guten Freun¬
den im Norden ein Tröpflein Balsam zu reichen, für die Wunden,
die sie dem Ansehen derselben durch frühere Darstellungen beigebracht
hat. Der Versasser, — ein Geistesverwandter jenes schlauen, ver¬
mittelnden Friedenspublicisten, der vor einem Jahre als „guter Deut-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0150" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181960"/>
            <p xml:id="ID_308" prev="#ID_307"> stellen und jährlich mit bundestäglicher Erlaubniß Versammlungen<lb/>
und Aweckessen halten, waren von jeher die schrecklichsten Störcsriede,<lb/>
die unangenehmsten Bibelkritiker. Das hat noch neulich der gefeierte<lb/>
Humboldt durch seinen Kosmos gezeigt. Es wird aber immer ärger.<lb/>
Die freie Forschung versetzt Berge; die ehrwürdigsten Häupter der<lb/>
Tradition fangen an zu wackeln. Jetzt hat der berühmte or. Robert<lb/>
Lepsius, wenn man der Augsburger Allgemeinen Zeitung glauben<lb/>
will, sogar den Berg Sinai &#x2014; abgesetzt. Ja, den Berg Sinai,<lb/>
auf dessen Spitze Moses mit Jehovah gesprochen hat, von dessen<lb/>
Gipfel die zehn Gebote proclamirt wurden, auf dem überhaupt jene<lb/>
Offenbarung stattfand, über deren Authenticität und unmittelbar<lb/>
überirdische Natur sich so Viele den Kopf zerbrochen haben und auch<lb/>
jetzt so viele Forscher sich in den Haaren liegen, &#x2014; diesen Berg Si¬<lb/>
nai hat Lepsius angegriffen. An seiner Entschuldigung dient aller¬<lb/>
dings, daß bereits vor ihm einige Reisende, wie Burckhardt und Leon<lb/>
Laborde, sich an dem heiligen Berge mit unmaßgeblichen Vermuthun¬<lb/>
gen und Zweifeln vergriffen haben. Lepstus aber beweist mit Be¬<lb/>
stimmtheit, daß der sogenannte Berg Sinai gar nicht der rechte, son¬<lb/>
dern ein falscher Prätendent, ein Pseudosinai ist. Der wahre Sinai<lb/>
liegt über zwei Tagereisen weit entfernt von dem angeblichen, ist von<lb/>
einer wunderbaren Vegetation umgeben, sechstausend Fuß hoch, und<lb/>
verbirgt sein heiliges, bemoostes Haupt in den Wolken; unter den<lb/>
anwohnenden Araberstämmen ist er unter dem Jncognitonamen Ser-<lb/>
bal bekannt. Also gegen zweitausend Jahre lang hat sich der Pseudo¬<lb/>
sinai bewundern und verehren, von zahllosen Pilgern seine ganz pro¬<lb/>
fanen Füße küssen, mit Eremitagen, Calvarienberglein und Kreuzen,<lb/>
ja sogar mit einem großen Catharinenkloster beschenken und schmücken<lb/>
lassen, ohne die unverdienten Gaben abzulehnen. Die Steine haben<lb/>
nicht geredet, und der wahre Sinai stand seitwärts, wie ein Gerech¬<lb/>
ter, der verkannt wird und schweigt. So geht es in der Welt. Viel¬<lb/>
leicht hat Serbal alle jene Huldigungen einer nur zu oft blos äußer¬<lb/>
lichen Frömmigkeit verschmäht. Wo nicht, so hat er mit seiner Ent¬<lb/>
hüllung sich verspätet, und seine Anerkennung fällt in eine Zeit, die<lb/>
fo erhabene, alte Häupter höchstens durch die Lorgnette besieht als<lb/>
mythologisch-antiquarische Raritäten, oder sie nur im Stahlstich eines<lb/>
malerisch-romantischen Reisewerkes bewundert.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_309" next="#ID_310"> &#x2014; Die Augsburger Allgemeine bringt einen Artikel über die<lb/>
Stellung und die sittlichen Zustände der russisch-griechischen Kirche,<lb/>
den sie vermuthlich nur aufgenommen hat, um unseren guten Freun¬<lb/>
den im Norden ein Tröpflein Balsam zu reichen, für die Wunden,<lb/>
die sie dem Ansehen derselben durch frühere Darstellungen beigebracht<lb/>
hat. Der Versasser, &#x2014; ein Geistesverwandter jenes schlauen, ver¬<lb/>
mittelnden Friedenspublicisten, der vor einem Jahre als &#x201E;guter Deut-</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0150] stellen und jährlich mit bundestäglicher Erlaubniß Versammlungen und Aweckessen halten, waren von jeher die schrecklichsten Störcsriede, die unangenehmsten Bibelkritiker. Das hat noch neulich der gefeierte Humboldt durch seinen Kosmos gezeigt. Es wird aber immer ärger. Die freie Forschung versetzt Berge; die ehrwürdigsten Häupter der Tradition fangen an zu wackeln. Jetzt hat der berühmte or. Robert Lepsius, wenn man der Augsburger Allgemeinen Zeitung glauben will, sogar den Berg Sinai — abgesetzt. Ja, den Berg Sinai, auf dessen Spitze Moses mit Jehovah gesprochen hat, von dessen Gipfel die zehn Gebote proclamirt wurden, auf dem überhaupt jene Offenbarung stattfand, über deren Authenticität und unmittelbar überirdische Natur sich so Viele den Kopf zerbrochen haben und auch jetzt so viele Forscher sich in den Haaren liegen, — diesen Berg Si¬ nai hat Lepsius angegriffen. An seiner Entschuldigung dient aller¬ dings, daß bereits vor ihm einige Reisende, wie Burckhardt und Leon Laborde, sich an dem heiligen Berge mit unmaßgeblichen Vermuthun¬ gen und Zweifeln vergriffen haben. Lepstus aber beweist mit Be¬ stimmtheit, daß der sogenannte Berg Sinai gar nicht der rechte, son¬ dern ein falscher Prätendent, ein Pseudosinai ist. Der wahre Sinai liegt über zwei Tagereisen weit entfernt von dem angeblichen, ist von einer wunderbaren Vegetation umgeben, sechstausend Fuß hoch, und verbirgt sein heiliges, bemoostes Haupt in den Wolken; unter den anwohnenden Araberstämmen ist er unter dem Jncognitonamen Ser- bal bekannt. Also gegen zweitausend Jahre lang hat sich der Pseudo¬ sinai bewundern und verehren, von zahllosen Pilgern seine ganz pro¬ fanen Füße küssen, mit Eremitagen, Calvarienberglein und Kreuzen, ja sogar mit einem großen Catharinenkloster beschenken und schmücken lassen, ohne die unverdienten Gaben abzulehnen. Die Steine haben nicht geredet, und der wahre Sinai stand seitwärts, wie ein Gerech¬ ter, der verkannt wird und schweigt. So geht es in der Welt. Viel¬ leicht hat Serbal alle jene Huldigungen einer nur zu oft blos äußer¬ lichen Frömmigkeit verschmäht. Wo nicht, so hat er mit seiner Ent¬ hüllung sich verspätet, und seine Anerkennung fällt in eine Zeit, die fo erhabene, alte Häupter höchstens durch die Lorgnette besieht als mythologisch-antiquarische Raritäten, oder sie nur im Stahlstich eines malerisch-romantischen Reisewerkes bewundert. — Die Augsburger Allgemeine bringt einen Artikel über die Stellung und die sittlichen Zustände der russisch-griechischen Kirche, den sie vermuthlich nur aufgenommen hat, um unseren guten Freun¬ den im Norden ein Tröpflein Balsam zu reichen, für die Wunden, die sie dem Ansehen derselben durch frühere Darstellungen beigebracht hat. Der Versasser, — ein Geistesverwandter jenes schlauen, ver¬ mittelnden Friedenspublicisten, der vor einem Jahre als „guter Deut-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/150
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/150>, abgerufen am 31.05.2024.