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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band.

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den Kerker geführt wird, wo er den Schierlingsbecher trinken soll. O
Athener! so ehrt ihr eure Weisen? Nein, nein, ich werde kein Phi¬
losoph!

Ach! sagt der junge Diogenes, ich sehe schon, ich muß wieder
ein Dieb werden, wenn ich in Ruhe mein Brod verzehren soll. Ich
habe nur noch zwei Obolen ... Sogleich kommen zwei Kerle, mit
dem Dolch in der Hand, und bitten sich die zwei Obolen aus, als
Lehrgeld vom Novizen. Eine gute Lection! aber das Handwerk hat
auch seine schlechten Seiten, denn die beiden Spitzbuben sind kaum
am Ende des Platzes, so werden sie von einer Patrouille, -- was ?
eine Patrouille in Athen? Schabe nichts, also -- von einer Patrouille
beim Kragen gepackt. -- Meine zwei Obolen! schreit Diogenes, gebt
mir meine zwei Obolen zurück! -- Deine Obolen gehören der Justiz
als Beweisstücke! erwiedern die athenienstschcn Municipalgardisten. --
BeimStyr! sagt Diogenes: ich mag auch kein Dieb werden!

Es wird Nacht und ihre Schatten fallen auch in Diogenes
Seele. Er überlegt, wie viel er in so kurzer Zeit gesehen und was
für Enttäuschungen er erlebt hat. Ich mag kein Soldat, kein Ou-
vricr, kein Poet, kein Philosoph, nicht einmal ein Dieb mag ich wer¬
den, d. h. also, ich will gar kein Mensch sein. Auch gut! Meinet¬
wegen gar kein Mensch... Ein Hund zieht seine Aufmerksamkeit
auf sich. Der Hund hat Durst, Diogenes auch. Der Hund trinkt
unmittelbar aus der Fontaine. Diogenes wird's auch so machen.
Der Hund hat keine Trinkschale, der Glückliche! Er hat, als Hund,
das Recht, sich ganz ungenirt zu benehmen; er zahlt keine Miethe,
er trägt keine Glacehandschuhe und wird von keinem Räuber bestoh-
len. Der Himmel ist sein Dach, die Natur sein einziger Herr, der
Instinct seine unfehlbare Philosophie. Ach! wie beneidet Diogenes
diesen Hund! ... Er wirft seinen Becher hin und wird ein Cy¬
niker.

Werden Sie es glauben? Dieses Vorspiel hat großen Effect ge¬
macht. Freilich schreibt Pyat für Pariser und nicht für deutsche Kri¬
tiker. Und wenn auch der Geschichte eine kleine Gewalt angethan wird,
ist die psychologische Erklärung des Cynismus, ist die Logik dieses
Diogenes nicht -- ächt französisch? Und man weiß, daß die Fran¬
zosen vor Allem auf die Logik halten."

Ein hiesiger Feuilletonist sagt von diesem "Prologue: Er ist ein¬
fach in seinem Gang, ungeheuer in seiner Wirkung, und von An¬
fang bis zu Ende behauptet er jene eherne Einheit, die der natürliche
Nahmen aller großen Conceptionen ist!"

Im ersten Act sehen wir Aspasia, die ein Bankett gibt. Peri-
kles ist todt, und um die Geliebte des großen Todten drängt sich
eine Masse von Herzenspratendenten. Da ist Alkibiades, zugleich mit
Demosthenes und Euripides, mit Mikon von Krotona und dem "Ban-


den Kerker geführt wird, wo er den Schierlingsbecher trinken soll. O
Athener! so ehrt ihr eure Weisen? Nein, nein, ich werde kein Phi¬
losoph!

Ach! sagt der junge Diogenes, ich sehe schon, ich muß wieder
ein Dieb werden, wenn ich in Ruhe mein Brod verzehren soll. Ich
habe nur noch zwei Obolen ... Sogleich kommen zwei Kerle, mit
dem Dolch in der Hand, und bitten sich die zwei Obolen aus, als
Lehrgeld vom Novizen. Eine gute Lection! aber das Handwerk hat
auch seine schlechten Seiten, denn die beiden Spitzbuben sind kaum
am Ende des Platzes, so werden sie von einer Patrouille, — was ?
eine Patrouille in Athen? Schabe nichts, also — von einer Patrouille
beim Kragen gepackt. — Meine zwei Obolen! schreit Diogenes, gebt
mir meine zwei Obolen zurück! — Deine Obolen gehören der Justiz
als Beweisstücke! erwiedern die athenienstschcn Municipalgardisten. —
BeimStyr! sagt Diogenes: ich mag auch kein Dieb werden!

Es wird Nacht und ihre Schatten fallen auch in Diogenes
Seele. Er überlegt, wie viel er in so kurzer Zeit gesehen und was
für Enttäuschungen er erlebt hat. Ich mag kein Soldat, kein Ou-
vricr, kein Poet, kein Philosoph, nicht einmal ein Dieb mag ich wer¬
den, d. h. also, ich will gar kein Mensch sein. Auch gut! Meinet¬
wegen gar kein Mensch... Ein Hund zieht seine Aufmerksamkeit
auf sich. Der Hund hat Durst, Diogenes auch. Der Hund trinkt
unmittelbar aus der Fontaine. Diogenes wird's auch so machen.
Der Hund hat keine Trinkschale, der Glückliche! Er hat, als Hund,
das Recht, sich ganz ungenirt zu benehmen; er zahlt keine Miethe,
er trägt keine Glacehandschuhe und wird von keinem Räuber bestoh-
len. Der Himmel ist sein Dach, die Natur sein einziger Herr, der
Instinct seine unfehlbare Philosophie. Ach! wie beneidet Diogenes
diesen Hund! ... Er wirft seinen Becher hin und wird ein Cy¬
niker.

Werden Sie es glauben? Dieses Vorspiel hat großen Effect ge¬
macht. Freilich schreibt Pyat für Pariser und nicht für deutsche Kri¬
tiker. Und wenn auch der Geschichte eine kleine Gewalt angethan wird,
ist die psychologische Erklärung des Cynismus, ist die Logik dieses
Diogenes nicht — ächt französisch? Und man weiß, daß die Fran¬
zosen vor Allem auf die Logik halten."

Ein hiesiger Feuilletonist sagt von diesem „Prologue: Er ist ein¬
fach in seinem Gang, ungeheuer in seiner Wirkung, und von An¬
fang bis zu Ende behauptet er jene eherne Einheit, die der natürliche
Nahmen aller großen Conceptionen ist!"

Im ersten Act sehen wir Aspasia, die ein Bankett gibt. Peri-
kles ist todt, und um die Geliebte des großen Todten drängt sich
eine Masse von Herzenspratendenten. Da ist Alkibiades, zugleich mit
Demosthenes und Euripides, mit Mikon von Krotona und dem „Ban-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_181809/183>, abgerufen am 31.05.2024.